Dunkelheit. Mit Beamer wird auf eine Leinwand eingeblendet:
Strafvollzugsanstalt Cottbus 1975
–
vier Absonderungszellen,
von Häftlingen
als Tigerkäfige bezeichnet
1. Akt
Im off ruft
Wachtmeister Steinert: Zäääää-hääääh-lung!
Dann geht nacheinander das
Licht in den Zellen an.
Vier Häftlinge quälen sich auf verschiedene
Weisen von den Pritschen. Sie stellen sich in verschlissenen
Nachthemden mit dem Rücken zum Publikum und erwarten mit
Händen an der nicht vorhandenen Hosennaht den Aufschluss der
Tür. Links, die Zelle von Theo Abraham, wird zuerst
geöffnet.
Abraham: Zelle Fuffzig, Staatsgefangner Abraham, Gutn
Morgen!
Meister
Steinert: Na, Sie Staatsgefangner, da holn Se sich mal ihren
staatlichen Kaffee rein.
Abraham
erledigt langsam und mit Würde die gewohnten morgendlichen
Arbeiten: Bettenbau, kleine Notdurft in den Kübel, dann
Zähneputzen überm Kübel, Katzenwäsche in der
Schüssel, anziehen der Häftlingskleidung.
Frühstück. Währenddessen schloss Meister Steinert
Hilbigs Zelle auf.
Hilbig: Herr Meester, Verwahrraum Einfuftsch mit eehm
Strafgefangnen belegt. Gutn Morgn!
Steinert (guckt ihn
milde, fast mitleidig an): Na komm Se, holn Se sich Ihr
Zeug rein!
Hilbig
kommt mit einem kleinen Schränkchen herein, auf dem eine
Schüssel mit Waschwasser steht. Der Wächter reicht ihm noch
die Alu-Kaffeekanne nach und schließt die Tür wieder ab, um
die nächste Zelle aufzuschließen. Bevor Hilbig sich
wäscht und anzieht, schenkt er sich erst einen Kaffee ein,
schimpft auf die lauwarme Brühe und setzt sich auf den Kübel
und drückt und presst stöhnend bis er rot wird.
Währenddessen schloss Meister Steinert Dr. Niemanns Zelle
auf.
Dr. Niemann:
Verwahrraum 52, Hm. Strafgefangener Dr.
Niemann, Guten Morgen, Herr Meister!
Meister
Steinert:
Guten Morgen, Strafgefangener
Niemann!
Dr. Heinz
Niemann erledigt die morgendliche Toilette wie ein Spitzensportler und
sitzt als erster am Gittertisch, trinkt seinen Malzkaffee und schmiert
sich Margarine auf eine Scheibe Graubrot, anschließend Marmelade.
Dann sieht er sich diesen Fraß an, nickt verneinend vor Abscheu
den Kopf und rammt sich mit Ekel im Gesicht die Brotschnitte in den
Hals. Währenddessen schloss Meister Steinert Ulli Beckers Zelle
auf.
Becker: Guten Morgen, Herr Wachtmeister! Verwahrraum 53 mit
Strafgefangenem Becker belegt! Besondere Vorkommnisse keine.
Wärter:
Na, dann kann’s ja losgehen mit den
Vorkommnissen. Komm’ Se, komm’ Se in Schwung, da vergeht
die Zeit schneller!
Ulli Becker trödelt vor sich hin, ist ständig in
Selbstgespräche verstrickt, bevor er seine Morgentoilette
vornimmt. Die Zellentüren sind alle zu, der Meister verlässt
den Keller, im off sind die Stiefeltritte treppauf zu hören und
das Verschließen einer Gittertür. Langeweile am Morgen.
Jeder brabbelt irgendwas vor sich hin.
Hilbig
(der sich langsam angezogen hat und
auf der Pritsche liegt): Zynismus oder
Zyankali. Hey Doktor, was is’n gesünder?
Dr. Niemann: Zynismus
oder Zyankali? Tja, der real existenz-zierende Zynismus ist ja nach
Marx die Vorstufe des Kommunismus. Hm. Wenn wir den erreicht haben,
darf sich die Gesellschaft bekanntlich auf ihre Fahne schreiben:
‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen!‘. Hm. Und dann, mein Lieber, dann darfst Du
endlich so viel Zyankali oder Zynismus konsumieren wie Dein Herz
begehrt.
Hilbig:
Danke Doktor, Du machst mir
große Hoffnung!
Dr.
Niemann: Ich nicht. Bedanke Dich bei Charly Marx!
Becker: Ja, Karl Marx hat tatsächlich voraus
gesehen… äh, dass in einer höheren Phase der
kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der
Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz
geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden
ist…
Hilbig
(feixend): Der kennt sein’ Marx auswendsch! Haa,
haaa… (Hilbig
steht wieder von seiner Pritsche auf und läuft in der Zelle
umher)
Abraham: Ja, der kennt seine rote Bibel! Aber ich meine
auch! (Dabei
hält er seine schwarze Bibel hoch.)
Becker: … äh…nachdem
die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste
Lebensbedürfnis geworden; nachdem… äh…
nachdem mit der allseitigen Entwicklung
der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen
und… äh… alle Springquellen des
genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann
der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden
und…
Dr.
Niemann: Halts Maul! Der Horizont ist längst
überschritten! Ich sehne mich nach dem bürgerlichen
Rechtshorizont zurück!
Becker: Nee! Wir haben den Horizont nach Marx eben noch lange
nicht überschritten!
Dr.
Niemann: Um Himmels Willen! Das kann ja nur
noch schlimmer werden, wenn wir jetzt schon mit diesem Linkshorizont,
hm, wo im Namen des Volkes das Volk bei den Prozessen ausgeschlossen
wird… Nee! Wie lässt sich das dann im Kommunismus noch
steigern, hm?
Becker: Leute, Ihr dürft doch nicht von unseren jetzigen
Erfahrungen ausgehen. Das hat doch Marx weder gewollt noch gemeint. Das
hat doch nichts mit Sozialismus… äh…geschweige denn mit
Kommunismus zu tun!
Hilbig: Recht hat er! Wir leb’m im real existierendn
Feudalismus. Das ist der Fortschritt uff der Stufenleiter von Karl
Murx! Nur leider führt die Jacobsleider, die ins himmlische
Paradies führ’n soll, nach untn!
Abraham: Ja, direkt in die Hölle!
Becker: So ’n Unsinn! Marx hat in seinem objektiven
Geschichtsgesetz erkannt, dass es mal eine Gesellschaft geben wird ohne
Staat, ohne Unterdrückung, ohne Ungerechtigkeit, weil in der
klassenlosen Gesellschaft alle Menschen gleichberechtigt sein
werden…
Hilbig: Sind wir doch jetzt schon! Wir habn alle die selbn Sachen
an, kriechn jedn Tag denselben Fraß, wer’ n alle von eem
Erzieher erzogn, na, wenn das keen Kommunismus is, dann weeß isch
ooch ne, was das sein soll.
Dr.
Niemann: Hilbig hat völlig Recht! Wir sind schon jetzt der
Menschheit ’ne ganze Epoche voraus….
Becker: Hört zu, Freunde! Marx hat gesagt:
‚Die Theoretischen Sätze der
Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, Prinzipien, die von diesem
oder jenem Weltverbesserer‘… äh… erfunden oder entdeckt sind.
Nein, sie sind, wie Marx sagt… äh, ‚nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher
Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes‘, ja, einer…‘einer unter unseren Augen vor sich gehenden
geschichtlichen Bewegung‘. Begreift Ihr das?!
Dr.
Niemann: Allgemeine Ausdrücke tatsächlicher
Verhältnisse – oh, wie wahr! Das können wir auf die
anschaulichste Weise wahrnehmen.
Hilbig: Klassenkrampf! Jawoll!
Abraham: Da würde ich doch lieber mit Heidegger… oder
noch lieber mit Paulus dagegen setzen…
Erzieher Urian (aus dem
off): Ruhe hier unten!
Dr. Niemann (halblaut):
Oh, unser Erzieher hat seinen Dienst
angetreten!
Abraham: So früh schon?
Hilbig: Nu, wir mach’ ihm viel Oorbeit, wir Verbrecher
wir.
Erzieher
Urian: Ruhe da unten!
Alle schweigen, beschäftigen sich nun individuell:
Becker liest in seiner Bibel; Hilbig legt sich auf seine Pritsche; Dr.
Niemann sitzt auf seiner Sitzplatte und schüttelt nur mit dem
Kopf, stützt den Kopf in die Hände und schluchzt; Becker
läuft sprechend wie ein Lehrer in seiner Zelle auf und ab, ruft
einzelne Schüler beim Namen auf, als hielt er eine
Geschichtsstunde. Dann lacht er über sich selber und lässt
sich auf die Pritsche fallen, um laut zu sinnieren.
Becker: Nichts kann die immer häufigere Wiederkehr jener
Augenblicke verhindern, in denen absolute Ohnmacht… äh, das
Gefühl einer totalen Leere und die Ahnung, dass die eigene
Existenz auf ein schmerzhaftes und endgültiges Desaster
zuläuft… Wenn mich noch der Glaube an eine bessere Welt
verlässt… äh, dann bin ich geliefert… Erledigt!
Aus und vorbei! Nein! Tausendmal Nein! Ich muss meinen Kindern und
Schülern ein Vorbild bleiben, ich muss… ich
muss… äh… Nur durchhalten? Ich darf nicht versteinern.
Ich muss lebendig bleiben. Ich muss! Die Schüler brauchen gute,
ehrliche Lehrer, ja Lehrer… äh, die ihnen Vorbild sein
können…
Abraham
(auf dem Blechsitz am Gitter sitzend:
erst leise, dann immer lauter aus der Bibel lesend): Die Gefangenschaft des
Paulus und die Verkündigung des Evangeliums: Ich lasse euch aber
wissen, liebe Brüder: Wie es um mich steht, das ist nur mehr zur
Förderung des Evangeliums geraten. Denn dass ich meine Fesseln
für Christus trage, das ist im ganzen Prätorium und bei allen
andern offenbar geworden, und die meisten Brüder in dem Herrn
haben durch meine Gefangenschaft Zuversicht gewonnen und sind umso
kühner geworden, das Wort zu reden ohne Scheu...
Hilbig
(schon wieder auf dem Kübel
sitzend):
Gefängnis… dieses Wort will das Zimmer nun nicht mehr verlassen.
Unbeweglich hocke ich auf dem Schreibtischstuhl und lausche dem
zähen Geräusch dieses halblauten Wortes nach, das irgendwo
zwischen diesen vier Wänden zur Ruhe gekommen ist, ein
scheußliches Insekt, das sich niederließ… eine Ratte,
die sich in meiner Behausung eingenistet hat. Aber nicht erst seit
heute, es lässt sich nur jetzt erst feststellen, dass die
Bedeutung des Wortes hier wohnt…
(Ein
dröhnender Furz beendet die Grübelei)
Dr. Niemann (langsam auf
und ab gehend, bei jedem Hm verharrend): Gefängnisse werden aus den Steinen der Ideologie
errichtet, die Gitterstäbe schützen uns vor ihrer
erdrückenden Dummheit. Hm. Oder was sagte Faust bei Goethe
so blöde? ‚In diesem Kerker, welche
Seligkeit‘ Hm. Wir haben Blechblenden vorm Fenster. Nicht mal
karierte Wolken dürfen wir sehen. Hm. Ohne Aussicht kommt man
besser zur Einsicht. Mein Gedächtnis häuft zusammengebrochene
Horizonte an.
Hm. Jetzt sind wir Prediger der
Freiheit. Und dann, wenn wir mal draußen sind? Was
dann? (fast
schreiend): Dann werden wir Prediger des
Hasses sein! Hm.
(längere Pause) Vielleicht
sitzen wir hier nur im Elfenbeinturm? Wer weiß das schon? Hm. Wer
hier unten nicht zu sich selber findet, der findet sich nirgendwo mehr
zurecht, in der bunten Freiheit des Westens schon gar nicht. Hm.
Für uns Knastologen ist das Gedächtnis die einzige Aussicht
in ein Universum. In ein Universum des Nichts. Hm. Je kürzer das
Geständnis war, je länger darf man hier sitzen. Hm.
(schüttelt verzweifelt den
Kopf)
Man hört
im off Schlüsselgeklapper und dass ein Kübel die Treppe
heruntergetragen wird. Die Gefangenen schnappen sich ihre Schüssel
und stellen sich an die Gittertüren. Meister Steinert öffnet
die Türen. Die Häftlinge halten hintereinander ihre
Schüssel aus der Tür und ziehen sie nach einem Schlag Suppe
wieder herein, setzen sich an den Blechtisch, während der
Wärter Steinert
beim Einschluss murmelt: Lassen Sie sich’s schmecken! Und manche
antworten: Danke,
Herr Meister!
Hilbig: Kalter Fraß wieder! Schweinerinde mit Borst’
n. Ekelhaft!
Dr. Niemann
(singend): Mein idealer Lebenszweck / Ist Borstenvieh, ist
Schweinespeck.
Hilbig: Doktor, Du bist und bleibst eben ein Schwein.
Dr. Niemann (pikiert den
Kopf schüttelnd): Also, ich bitte
Dich!
Hilbig: Frauenarzt sein und Schweinspeck lieb’ n, das
is’ doch verdächtig, oder?
Dr.
Niemann: Erstens liebe ich keinen Schweinespeck, auch nicht an
Frauen, und zweitens habe ich nur aus der Strauss-Operette ‚Der
Zigeunerbaron zitiert, Du Prolet!
Abraham: Pass auf, Heinz! Zigeuner darfst Du dann im Westen nicht
mehr sagen, nur noch Sinti und Roma.
DR. Niemann: Ich habe mir hier im Osten
nicht den Mund verbieten lassen, dann doch im Westen erst recht
nicht.
Abraham: Na, Du wirst schon sehen, welche fortschrittlichen Leute
es dort gibt, die Dir vorschreiben wollen, wie Du etwas zu sagen und
damit zu denken hast. Oder guckst Du kein Westfernsehen?
Dr. Niemann:
In meiner Familie gab’s nur
Westfernsehen. Oder denkst Du, ich habe mir den Chefkommentator Eduard
von Schnitzler… den Sudel-Ede zugemutet? Dieser adlige Prolet war
doch in der Zone der größte
Herzversagen-Verursacher.
Hilbig
(lachend): Gut gesagt, Doktor!
Abraham: Na, lieber Doktor, ist Dir aber nicht aufgefallen, dass
die linksextremen 68er in ihrem Marsch durch die Institutionen schon
ganz oben angekommen sind?
Dr.
Niemann: Nun übertreibe mal nicht! Solange Gerhard
Löwenthal noch sein ZDF-Magazin moderiert, Axel Springer als
Verleger noch nicht enteignet ist und Franz Josef Strauß im
Bundestag noch seinen Mund aufmachen darf, sehe ich da noch keine zu
großen Gefahren.
Abraham: Na, Du wirst Dich noch wundern und dann vielleicht mal an
mich denken.
Becker: Ruhe! Da schleicht was!
Alle lauschen. Plötzlich wird Beckers
Tür aufgeschlossen und Oberleutnant Urian steht im Vorraum der
Zelle.
Becker: Herr Oberleutnant, Strafgefangner Becker…
Erzieher Urian (hat einen
Brief in der Hand): Hier, Strafgefangner
Becker, ein Brief von Ihrer Frau.
Becker will zugreifen, aber Urian hält
ihn fest und sagt: Erst den letzten Brief Ihrer Frau zurück!
Becker kramt in seinem kleinen
Schränkchen, holt den Brief heraus und übergibt ihn den
Oberleutnant, der ihm nun erst den neuen Brief aushändigt. Becker
drückt den neuen Brief beglückt an sein Herz, bevor er ihn
küsst. Nach dem Zellenzuschluss erscheint Urian in der Zelle Dr.
Niemanns.
Dr.
Niemann: Verwahrraum 51, Strafgefangener Dr. Niemann, Guten Morgen
Herr Oberleutnant!
Urian: Ich wollte Ihnen nur
mitteilen, Strafgefangener Niemann, dass Ihr Brief wieder nicht
abgeschickt werden konnte.
Dr.
Niemann: Warum nicht?
Urian: Sie sind lange genug hier, Strafgefang’ner Niemann. Wenn
Sie’s nicht lernen wollen, wie man normale Briefe schreibt, dann
ist das Ihr Problem!
Urian schmeißt die Tür ins Schloss,
schließt die Tür ab und geht die Treppen hinauf.
Becker (verzweifelt
schreiend, gurgelnd): Neiiiiiiiiiin!
Neiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiin! Neiiiiiiiiiiin!
Alle anderen Häftlinge
erstarren und lauschen. Becker wälzt sich wie ein Epileptiker am
Boden.
Urian: Ruhe da unten!
Abraham: Hey, was is’ los, Ulli?
Soll’n wir Hilfe rufen?
Alle lauschen, aber Becker antwortet nicht, wälzt sich
mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden.
Hilbig: Becker! Becker, sag’ doch was!
Aber Becker antwortet nicht; alle
anderen Häftlinge laufen aufgeregt wie gefangene Tiger in ihrem
Käfig hin und her. Becker schleppt sich nach einer Weile
schluchzend auf die Pritsche und heult und heult.
Hilbig: Becker, sag’ doch was!
Abraham: Ulli, bitte gib ein Zeichen! Wir sorgen
uns…
Wieder
laufen alle hin und her, Dr. Niemann stets seinen Kopf schüttelnd.
Becker liegt bäuchlings auf der Pritsche und heult.
Abraham: Bitte Ulli, sag was!
Becker rafft sich hoch,
sitzt auf der Pritschenkante, den Kopf in die Hände gestützt
und murmelt: Scheidung…
Scheidung…
Abraham: Ulli, ich kann nichts verstehen. Was ist los?
Becker (schluchzend):
Meine Frau… huhh…hat…
huhhu… die Scheidung eingereicht…
Becker lässt sich wieder bäuchlings
auf die Pritsche fallen und heult.
Abraham: Um Gottes Willen –
Scheidung…
Hilbig: Nu, Becker, nimm’ s doch gelassn. Im Westn
gibt’s genug Fraun, die uff Dich wartn.
Becker (sich wieder von
der Pritsche erhebend und leise): Ich will
nicht in den Westen! Ich will bei meinen Schülern bleiben,
äh…bei meiner Familie, meiner Frau… (schluchzt, dann
lauter) Ich
kann’s nicht glauben. Äh…der Brief ist
gefälscht!
Dr.
Niemann: Der Stasi ist alles zuzutrauen. Hm. Doch den Frauen leider
auch.
Abraham: Jesus hat Frauen immer verehrt,
verteidigt und gewürdigt. Deshalb hat er auch so viele
Nachfolgerinnen. Er machte keinen Unterschied zwischen den
Geschlechtern.
Dr.
Niemann: (verhalten und
kopfschüttelnd): Oje, wer stillt die
Lust meiner Frau? Bleibt sie mir treu? Hm. Werden mich meine Kinder
vergessen?
Abraham: Was empfinden meine Eltern, meine Schwester? Und meine
Martina? Werden wir uns gesund wiedersehen?
Dr.
Niemann: Wer hält mir einen Platz frei im Leben? Hm? Meine
Kinder mussten lange genug meine Dummheiten ertragen. Hm. Nun sind sie
alt genug, sie selber zu machen.
Abraham: Heilt die Zeit alle Wunden? Oder heiligt ein Wunder diese
Zeit? Oh, ich glaube, der Schlaf ist das beste Mittel gegen die Zeit,
die unser Leben ist…
Hilbig: Das wertvollste, was der Mönch besitzt, is sei
ummauertes Lebn.
Abraham: Das Gebet sollte so bedenklich
sein wie die Ruine einer Gewissheit.
Dr.
Niemann: Gott hebt sich durch das Nichts und das Nichts durch Gott
auf. Hm. Bloß gut, dass Frauen keine Götter…hm…
sondern nur Göttinnen sind.
Abraham: Frauen, sagte mal einer, sind
die schönsten Früchte am Baum des Lebens.
Dr. Niemann:
Ach, Abraham! Du willst mir doch nicht
weismachen, hm, dass Du die Frauen besser kennst als ich.
Hm…(lacht) Du
Naseweis!
Abraham: Und Du glaubst doch nicht, dass Du Frauen besser kennst,
nur weil Du ihnen beruflich immer zwischen die Beine gucken
durftest.
Dr.
Niemann: Oh doch! Du wirst doch zugeben, dass es zwischen Innen und
Außen einen Zusammenhang gibt, oder?
Abraham: Na und?
Dr.
Niemann: Und was man da oft zu sehen bekommt, das würde alle
Deine Erwartungen sprengen. Hm. So schlecht kannst Du gar nicht denken,
wie es mir manchmal werden wollte.
Hilbig: Nu lass doch mal was guckn, Doktor!
Dr. Niemann:
Nein, ich werde selbst unter widrigsten
Umständen mein ärztliche Schweigepflicht nicht verletzen.
Hm…Vielleicht nur ein Kuriosum. Hast Du schon mal’ ne Frau
mit zwei Vaginas gesehen?
Hilbig: Nu, so was könntn de meistn Männer gebrauchn. Da
braucht’n se ni sooft fremd zu gehn.
Abraham: Aha! Nun seid Ihr wieder beim Thema eins.
Dr. Niemann:
Ach, der Theologe ist schon satt. Hm. Dabei
gehen wir äußerst sanft mit diesem Thema um. Oben in den
Massenzellen geht’s da ganz anders zur Sache. Hm. Vor allem bei
den Kriminellen.
Hilbig: Oja, das kannste laut sachn, Doktor!
Dr. Niemann:
Nee, muss ich ja nicht. Ist ja so schön
intim hier unten. Hm. Aber mal was Praktisches aus meiner Praxis. Hm.
Kam mal’ ne Frau zu mir und sagte: ‚Herr Doktor, ich glaube
meine Spirale is’ im Arsch!’
Hilbig: Na und?
Dr. Niemann:
Gnädige Frau, konnte ich da nur
erwidern, hm, dort gehört sie aber nun wirklich nicht
hin!
Hilbig feixt
grell.
Abraham: Nun sind wir wieder bei den Männerwitzen
angekommen!
Hilbig: Nu, da komm wir doch glei mal uff Dich zu sprechn. Biste
eigentlich ’n katholischer oder evangelischer
Theologie-Student?
Abraham: Ich komme aus dem Eichsfeld. Dort wachsen fast alle noch
katholisch auf.
Dr.
Niemann: Ach, Du armer Kerl. Da darfst Du ja gar keinen Sex
haben!
Abraham: Du wirst staunen, ich habe sogar ’ne
Freundin.
Hilbig: Ohne Sex?
Abraham: Wieso denn? Ich darf nur kein verheirateter Priester
werden wollen.
Dr.
Niemann: Wozu studierst Du dann Theologie?
Abraham: Nun, ich kann ja auch Religionslehrer werden oder
Wissenschaftler oder Diakon. Ich habe ja noch ein paar Nebenfächer
belegt.
Dr.
Niemann: Hm. Aber der katholischen Kirche kommt doch der
Priester-Nachwuchs abhanden, Hm. Oder irre ich da?
Abraham: In Deutschland kommt uns wohl überall alles
Wesentliche abhanden. Doch in den katholischen Gegenden gibt es
immerhin noch den meisten Nachwuchs, die wenigsten Ehescheidungen, die
geringste Kriminalität und…
Urian
(off): Verdammt noch mal! Ruhe da unten!
Alle, bis auf Ulli Becker, der
noch bäuchlings auf der Pritsche liegt und schluchzt, wandern in
ihren Zellen auf und ab. Nach einer Weile:
Dr.
Niemann: Verdammt noch mal! Jetzt ist Kaffe-Zeit. Hm.!
Hilbig: Man könnte ooch ’ne Tee-Party-Bewegung
meinen!
Abraham: Meinst Du die amerikanische Tea-Party-Bewegung? O ja,
für ’ne Tasse Jasmintee lasse ich gern mal alles stehn und
liegen.
Hilbig: Jasmiiin-Tee? Noch nie gehört. In welchm Konsum solls
’n den gebn?
Dr. Heinz Niemann und Theo Abraham lachen.
Dr. Niemann:
Hast wohl keene Westverwandtschaft? Hm? Oder
kein Westgeld für den Intershop?
Abraham: Aber wenn Dein Gedichtband bald im S. Fischer-Verlag in
Frankfurt am Main erscheint, dann dürftest Du ja im Westen nicht
ganz mittellos dastehen, wa?
Hilbig: Glaub’ch ni, dass Lyrik viel einbringt, wenn ich ni
noch ’nen Preis dafür bekomme.
Dr.
Niemann: Hm. Da musste ja harte politische Hetzgedichte dabei
haben, wenn sie Dir für Lyrik Knast aufgebrummt haben,
hm?
Hilbig: Äh! Überhaupt ni! Keene einzige polit’sche
Vokabel. Alles nur reine Poesie. (Nach einer Pause): Nu ja, es sei
denn… Ein Freund von mir, der hat ma nachgezählt, da solln
in dem Band aus sechsundsechzig Gedichtn fuffzich mal Schattn und Nacht
vorkomm. Außerdem verwendete ich da drin unbewusst fuffzich mal
die Adjektive dunkel, schwarz und düster…
Abraham: Na also! Ist doch logisch, dass Du hier sitzt. Wer so
düster unseren Arbeiter-und-Bauern-Staat abbildet, nee! Dazu noch
einer, der selber aus der Arbeiterklasse stammt. Na, das wirft ja
dicke, realsozialistische Rußwolken über unseren ersten
deutschen Friedensstaat, mein lieber Nestbeschmutzer!
Dr. Niemann:
Hm, Du bist ja ein ganz Raffinierter!
Hätte ich Dir gar nicht zugetraut. Hm, da werde ich mir wohl im
Westen mal meinen ersten Gedichtband zulegen müssen, nämlich
den Deinen. Wie heißt er denn eigentlich, hm?
Hilbig: Abwesnheit.
Urian: Ruhe da unten! Es knallt
gleich! Solche Ochsen da unten!
Hilbig (leise):
Muh, muh!
Dr.
Niemann (leise und den Kopf
schüttelnd): Abwesenheit, hm, abwesend
war ich schon lange in dieser Prolo-Diktatur…
Alle laufen wieder in ihren
typischen Posen hin und her, nur Ulli Becker hält breitarmig das
Gitter umfasst und schluchzt noch.
Hilbig
beginnt nach der Melodie der
Moorsoldaten in Richtung des Publikums zu singen: Cottbus heißt die öde Stätte, mit der
roten Strafanstalt, zwingt politische Gefangne hier zu langem
Aufenthalt…
In
den Refrain fallen alle vier Häftlinge, dabei immer lauter
werdend, mit ein: Das ist das Zuchthaus
Cottbus, Symbol des Sozialismus in Aktion (jetzt trommeln dabei alle mit auf den Blechtischen: wumm,
wumm, wumm!), in Aktion (wumm, wumm, wumm!),
in Aktion…
(wumm, wumm, wumm!)
Obermeister RT schließt hastig
Hilbigs Zelle auf und brüllt mit hoch erhobenen Gummiknüppel:
Das Singen vergeht Euch noch! Das gibt
Arrest!
Hilbig brüllt:
Ich kann gar nich sing’! Ich kenn den
Text gar nich!
RT:
Ich habe Ihrn sächsischen Tenor genau
herausgehört! Sie kennen ja die Hausordnung! Rufen, Klopfen,
Pfeifen, Singen und sich sonst wie bemerkbar machen – verboten!
Der Obermeister
hält inne und hört die weiteren Strophen des Liedes aus den
anderen Zellen.
Ohne
Hilbigs Zelle zu schließen, öffnet er die Nachbarzelle und
droht wieder, doch Abraham
hebt die Hände: Bei Gott, ich singe doch nur im Kirchenchor!
Die jeweils anderen Häftlinge
singen weiter: Uns umgeben hohe Mauern, und
das Leben wird zur Qual, doch wir werden nie bedauern, was uns Vernunft
zu tun befahl…
RT hetzt zur nächsten Zelle, wieder die
äußere Tür offen lassend, und schließt sich in
die nächste Zelle: Ruhe oder es
knallt!
Dr. Niemann macht Meldung: Herr Obermeister, Verwahrraum…
RT (brüllt):
Schnauze! Sie haben gesungen! Das gibt
Arrest!
Dr.
Niemann:
Ich kann gar nicht singen!
RT: Sie solln nicht noch lügen!
Dr. Niemann:
Fragen Sie doch meine Frau, die lacht sich
kaputt!
Während
die anderen Häftlinge wieder den Refrain singen, hastet
RT
zur letzten Tür: Strafgefangener Becker!
Sie haben gesungen. 21 Tage Arrest!
Becker: Aber Genosse Obermeister, ich…
RT: Sind Sie verrückt?!
Becker: Warum denn?
RT: Mich
mit Genosse anzusprechen?!
Becker: Entschuldigung, ich wusste doch nicht, dass man Sie aus
der Partei ausgeschlossen hat.
RT: Sind Sie verrückt?! Ich
bin Genosse, ja! Dreimal Ja! Aber doch nicht für Sie, Sie
Verbrecher, Sie!!!
RT hetzt wieder zurück zu Hilbig und brüllt:
So, jetzt habe ich Sie erwischt!
Hilbig: Wobei denn, Herr Obermeester?
RT: Beim Singen! Das gibt Arrest!
Hilbig: Den hamm wir doch schon!
RT: Jetzt gibt’s den verschärften. 200 Gramm
trocknes Brot. Sie kenn sich doch aus, wa?
Hilbig: Und warum?
RT: Weil Sie gesungen haben!
Hilbig: Ich rede mit Ihn’, da kann’ch doch gar nich
gleichzeitsch singen!
Während die anderen
Häftlinge jeweils weitersingen: Richtung
Westen geht das Sehnen, dorthin, wo man Freiheit kennt. Nichts
verbindet uns mit denen, deren Macht das Leben hemmt…
stürzt RT wieder in Abrahams
Zelle:
So,
Strafgefangener Abraham, woll’n Se noch immer behaupten, nicht
gesungen zu haben?!
Abraham: Selbstverständlich, Herr Ober…
RT: Schnauze, Sie Lügner!
Abraham: Aber, Herr
Ober…
RT: Schnauze! Ich bin kein
Ober!
Abraham: Sie lassen mich ja nicht
ausreden!
RT: Sie
haben gesungen!
Abraham
(hustend):
Um Gottes Willen, ich habe Sie nicht
besungen. Ich schwörs vor Erich Honecker, Herr
Ober…!
RT: Ich bin kein Ober! Das
könnte Ihnen wohl so passen?
Abraham (Hacken
zusammenschlagend): Jawoll, Herr Oberst!
RT: So, für Ihre Frechheiten kriegen Sie jetzt zweimal 21
Tage!
Abraham: Ist das ’n Sonderangebot?
RT (mit dem
Gummiknüppel durchs Gitter drohend): Wir
könn’ auch anders!
Abraham: Das glaube ich nicht! Ihr Knüppel, der sozialistische
Wegweiser, der kann doch nur knüppeln!
RT (hysterisch
brüllend): So! Dreimal 21
Tage!
Währenddessen singen die anderen Häftlinge:
Einmal deutsches Volk erwache und erkenne
deine Macht. Öffne alle Kerkermauern, feg’ hinweg die rote
Schmach…
RT steht wieder in Dr. Niemanns Verwahrraum: So! Wolln Se jetzt zugeben, dass Se gesungen
haben?
Dr.
Niemann:
Ich bin doch kein Genosse!
RT: Was hattn das damit zu
tun?
Dr.
Niemann:
Gut, ich könnte ja auch fragen, ob ich
bescheuert bin?
RT: Gute
Idee. Sie dürfen jetzt den Kellergang und das Treppenhaus
scheuern!
Dr.
Niemann wird herausgeschlossen.
RT: Komm Se! Komm Se! Im off: Halt! Gesicht zur Wand!
Nach einer Weile der
Schlüsselgeräusche: Komm’ Se!
Komm’ Se!
Während man RT in der Ferne noch
poltern hört: Aber zügig und alles
blitzeblank, sonst gibt’s Arrest! Verstanden?!
Dr. Niemann antwortet
zackig (im off): Jawoll, Herr Oberst!, singen die drei anderen
Abgesonderten den Refrain des Cottbus-Liedes: Das war das Zuchthaus Cottbus, Symbol des Sozialismus, in
Aktion, in Aktion, in Aktion…
Dann eine Minute Stille. Die drei übrigen
Häftlinge laufen in ihren Zellen umher. Hilbig rüttelt an
den Gitterstäben und ruft: Doktor
Niemann! Heiiiiiiiiinz, hörste mich?
Becker: Na, Niemann wird wohl von oben nach unten schrubben
dürfen.
Alle
bleiben plötzlich stehen, halten inne und hören den
Erzieher Urian in der Ferne (off) schreien: Was?! Unglaublich! Das ist ja Aufruhr!
Meuterei!
Nach einer
Pause: Und was machen Sie hier?!
Dr. Niemann (im
off): Ich putze Ihre Treppe hinauf, die hinab
führt.
Urian
schreit RT an: Keiner dieser, dieser Verbrecher… keiner von denen
darf hier arbeiten!
Dr. Niemann: Das verstehe ich gut, Herr Oberleutnant, denn Arbeit macht
frei, hm, das wussten schon Ihre Vorgänger.
Urian: Halten Sie Ihr loses Maul!
Und zu RT gewandt: Sofort in die Einzelunterbringung!
RT:
Jawohl, Genosse Oberleutnant!
RT packt den Gefangenen und
schubst ihn samt Eimer die Treppen hinunter. Man hört blechernes
Gepolter: Selber schuld, Sie Trottel,
Sie!
Dr. Niemann
(schreiend, winselnd): Au! Auaaa!
Dr. Heinz Niemann wird durch die offene Tür geschubst,
dann gegen das Gitter neben der Gittertür geworfen, dann
öffnet RT die Gittertür, schiebt mit Wucht den
50-jährigen Häftling mit nassen Klamotten in die Zelle,
stellt ihm ein Bein, so dass dieser bäuchlings auf dem
Fußboden landet und dort liegen bleibt.
Alle sind still. Nach einer Weile
beginnt Abraham Liegestütze zu machen, später Kniebeugen.
Becker schüttelt andauernd seinen Kopf und versucht ihn mit den
Händen fest zu halten.
Hilbig gähnt hemmungslos und beginnt bald eigene Verse zu zitieren:
wie lange… (gähnt, dann energisch fortfahrend):
wie lange wird noch unsere Abwesenheit geduldet.
Keiner bemerkt, wie schwarz wir angefüllt sind,
wie wir in uns selbst verkrochen sind -
in unsere Schwärze…
Abraham (fortfahrend):
Nein, wir werden nicht vermisst.
Wir haben stark zerbrochene Hände, steife Nacken –
das ist der Stolz der Zerstörten; und tote Dinge
schaun auf uns, zu Tod gelangweilte Dinge – es ist
eine Zerstörung, wie sie nie gewesen ist…
Dr. Niemann (am Boden liegend, den Kopf hebend, murmelt mehr recht als schlecht):
Und wir werden nicht vermisst. Unsere Worte sind
gefrorene Fetzen und fallen in den geringen Schnee,
wo Bäume stehn, prangend weiß im Reif – (jetzt zornig und energisch): ja und
reif zum Zerbrechen…
Becker:
Alles, das Letzte ist in uns zerstört, unsere Hände,
zuletzt zerbrochen unsere Worte. Zerbrochen: komm doch,
geh weg, bleib hier – eine restlos zerbrochene Sprache,
einander vermengt und völlig egal in allem,
und der wir nachlaufen und unserer Abwesenheit…
Hilbig:
nachlaufen, so wie uns am Abend
verjagte Hunde nachlaufen mit kranken
unbegreiflichen Augen.
Eine
Minute lang Ruhe. Alle Häftlinge lauschen, Dr. Niemann steht
langsam auf und begibt sich zur Gittertür. Die anderen
Häftlinge ebenfalls.
Dr.
Niemann: Hört ihr? Dann noch einmal
lauter: Hört ihr?!
Becker: Was denn?
Abraham: Da kommt was auf uns zu.
Höre ich richtig?
Hilbig: Hunde, Hunde!
Dr. Niemann:
Hunde, wollt ihr ewig leben?
Abraham (erstaunt): Tatsächlich, kläffende Hunde.
Hilbig: Ihr habt wohl Angst vor den Ködern?
Dr. Niemann: Ich liebe
Hunde, habe selber schon vier gehabt.
Hilbig: Heute hamm wir den Roten Terror zum Hasn
gemacht. (lacht)
Becker: Die werden sich rächen. Die Hunde sind gegen
uns.
Dr.
Niemann:
Ja, auf uns abgerichtet.
Hilbig: Ihr müsst se füttern! Habt wohl selber nichts
mehr zum Fressen?
Becker (in seinem
Schränkchen herumkramend): Nur noch ’n Stückl vergammelten
Sachsenspeck.
Dr.
Niemann: Das musste dem in den Rachen schmeißen, schon haste
einen Freund mehr auf diesem Planeten!
Jetzt erst hört der Zuschauer aus der Ferne
das immer lauter werdende Hundegekläff. Dann wird zuerst Hilbigs
Tür geöffnet, der Hund springt ans Gitter und kläfft
wütend. Er ist an der Leine von RT.
Oberleutnant
Urian (drängt sich ebenfalls in
die Zelle und brüllt): So, jetzt is
Schluss mit lustig! Sie haben gesungen, Hilbig!
Hilbig: Wenn ich singe, Herr Leitnant, dann zieht’s
Ihn’ de Schuhe aus.
Urian (wutschnaubend): Sie!
Siiieeeee!!!
Becker (aus seiner Zelle
rufend): Herr Oberleutnant! Ich hab’
gesungen.
Urian: Wer war das?!
RT: Das war Becker!
Beide stürmen aus dem
Verwahrraum, lassen die Tür offen stehen und öffnen die
Zellentür von Becker.
Becker: Herr Oberleutnant, Verwahrraum 52 mit
einem…
Urian (brüllend): Schnauze! Dann gedämpft fortfahrend: Sie haben gesungen?
Becker: Jawohl, Herr Oberleutnant, ich habe gesungen.
Urian: Sie kennen die Hausordnung?!
Becker: Die ist veraltet. Sie haben doch bestimmt die Schlussakte
von Helsinki gelesen. Die war im Neuen Deutschland abgedruckt. Die hat
auch Genosse Honecker…
Urian: Nehmen Sie nicht unseren
Genossen Honecker in den Mund, Sie Staatsfeind, Sie!!!!
Becker: Er hat dieses Menschenrechtsdokument
unterschrieben!
Urian: Sie kennen die
Hausordnung?!
Becker: Ja.
Urian
(aufgeregt die Gittertür
aufschließend): Und da erlauben Sie
sich… (sich in
eine Wutphase hineinsteigernd) Und da
erlauben Sie sich… Gegen die Hausordnung… Gegen geltendes
Recht im Arbeiter- und Bauernstaat… Gegen uns…
Becker: Ja.
Urian packt Becker an der Gurgel und schlägt seinen
Kopf rhythmisch an die Wand.
Becker reißt die
Hand des Erziehers herunter und ruft: Singen
ist Menschenrecht!
Urian
springt zurück und zückt
aus der Hosentasche seinen ausziehbaren Schlagstock.
Becker singt trotzig:
Brüder zur Sonne, zur… und Urian schlägt zu,
während Becker sich mit Armen zu schützen versucht und
weitersingt: …zur Sonne, zur
Freiheit… Jetzt kommt auch RT dazu und beide schlagen nun rhythmisch
auf den in die Knie gegangenen Gefangenen ein, während Hunde
wütend bellen.
Dr. Niemann ballt die Fäuste und schüttelt nur
mit den Kopf, während Abraham auf die Knie
sinkt, die Arme flehentlich in den Himmel streckt und ruft:
Herr, erbarme dich…
Hilbig (demoliert
währenddessen seine Zelle, schmeißt alles wütend gegen
das Gitter, kippt seine Pritsche um und schreit): Ihr rotn Nazi-Schweine! Ihr Stalinistn, Ihr Verbrecher,
Ihr Drecksäue, Ihr!
Oberleutnant Urian verlässt wütend Beckers Zelle,
alle beiden Türen offen stehen lassend, und zieht RT mit sich, der
wiederum den Hund mit sich zieht. (Im off hört man sie die Treppen
hinauf hasten.)
Becker
(der blutig geschlagen am Boden
liegt, schreit dem Oberleutnant nach): Sie
Faschist, Sie!
Urian
(im off):
Habn Se das gehört? Ins Protokoll! Er
hat mich Faschist genannt. Mich! Das rechtfertigt jede
Gewaltanwendung!
RT: Jawoll, Genosse
Oberleutnant! Ich hätte noch viel mehr…
(Man hört beide die Treppen
aufsteigen; das Hundegebell verebbt in der Ferne.)
Becker (robbt
blutverkrustet zur äußeren Tür und ruft): Kameraden! Meine Türen sind offen.
Hilbig: Hey Ulli, lebst’ de noch?
Abraham: Gott sei Dank!
Becker: Achtung!
Meister Steinert taucht
unerwartet auf und geht rasch auf dem am Boden liegenden zu:
Strafgefangener Becker, wo wollen Sie denn
hin?
Becker (aufschauend):
Das weiß ich selber nicht!
Steinert (wischt dem am
Boden Liegenden das Blut vom Gesicht und hilft ihm anschließend
wieder auf die Beine): Können Sie wieder
aufstehn?
Becker
(mühsam aufstehend):
Nichts leichter als das!
Steinert: Jawoll! Wollen, das ist alles!
Becker: Und nun?
Steinert: Wie gehabt – alles beim Alten! Fertig machen zur
Nachtruhe! Dann noch
einmal laut für alle Häftlinge: Fertig machen zur Nachtruuuuuuu-he!
Alle Türen werden
aufgeschlossen, jeder stellt sein Schränkchen mit Schüssel
darauf vor die Tür, nacheinander geht jeder seinen Kübel
entleeren. Man hört im off Blechgeklapper und
Wasserspülgeräusche.
Anschließend wünscht Meister
Steinert allen beim Einschluss abwechselnd: Trotz alledem – Gute Nacht! oder
Gute Träume!
und löscht von außen nacheinander
das Licht in den Zellen.
Hilbig:
… Nacht, ich beschwöre dich,
Schläfre mich ein, lass bleiern meine Glieder dahinsinken
Lass mich haben, wollen, fressen, trinken
das Nichts
des Lichts
Grelle wende ab von mir
und jeden Schein,
und mach mich stumm und taub und blind dem Sein…
Eine Minute Stille und Dunkelheit auf der Bühne. Nur
ganz in der Ferne ist Hundegejaule zu hören, das in schmachtende
Musik (eventuell Kinderchor aus dem Abba-Song I Have A Dream)
übergeht. Drei leicht bekleidete Tänzerinnen geben eine
Tanzeinlage (ca. 3 bis 5 Minuten) bei spärlicher Beleuchtung und
Nebelwallungen, die erotischen Träume der Häftlinge
verkörpernd…