1. Häftling:
Theo Abraham, Theologie-Student, realistischer Idealist
2. Häftling:
Wolfgang Hilbig, Schriftsteller und als Heizer Protagonist der
Arbeiterklasse
3. Häftling:
Dr. Heinz Niemann, älterer Frauenarzt, witziger Zyniker
4. Häftling:
Ulli Becker, geradliniger Geschichtslehrer, noch immer Marxist, als
rote Socke verschrien
5. Funktionshäftling in
voller Uniform (Jacke mit gelben Streifen, sowie Käppi auf dem
Kopf) – kann jeweils vom Wärter oder Erzieher gespielt
werden, Auftritt nur bei der Essenausgabe
3 Tänzerinnen
Ort: Zuchthaus Cottbus
1975 und Schluss-Szene 1990
Vier einsehbare Zellen nebeneinander. Pritschen,
Kübel, Zwischengitter mit Gittertür und Blechplatten als
Sitzfläche und Tisch. Dahinter sichtbar graue
Holzzellentüren. Die Strafvollzugsangehörigen agieren zumeist
hinter den Türen, ab und zu kommen sie auch in die Zellen,
Oberleutnant Urian oder RT zumeist brüllend und
aufgebracht.
Das
Stück schließt die Tragödie wie die Satire in der
Komödie ein; wenig Handlung, lebt überwiegend von der Angst,
dem Witz und der Hoffnung der Häftlinge.
Siegmar Faust: Erziehung durch Einzelhaft Erster Akt
Dunkelheit. Mit Beamer wird auf eine Leinwand eingeblendet:
Strafvollzugsanstalt Cottbus 1975
–
vier Absonderungszellen,
von Häftlingen
als Tigerkäfige bezeichnet
1. Akt
Im off ruft
Wachtmeister Steinert:Zäääää-hääääh-lung!
Dann geht nacheinander das
Licht in den Zellen an.
Vier Häftlinge quälen sich auf verschiedene
Weisen von den Pritschen. Sie stellen sich in verschlissenen
Nachthemden mit dem Rücken zum Publikum und erwarten mit
Händen an der nicht vorhandenen Hosennaht den Aufschluss der
Tür. Links, die Zelle von Theo Abraham, wird zuerst
geöffnet.
Meister
Steinert: Na, Sie Staatsgefangner, da holn Se sich mal ihren
staatlichen Kaffee rein.
Abraham
erledigt langsam und mit Würde die gewohnten morgendlichen
Arbeiten: Bettenbau, kleine Notdurft in den Kübel, dann
Zähneputzen überm Kübel, Katzenwäsche in der
Schüssel, anziehen der Häftlingskleidung.
Frühstück. Währenddessen schloss Meister Steinert
Hilbigs Zelle auf.
Steinert (guckt ihn
milde, fast mitleidig an):Na komm Se, holn Se sich Ihr
Zeug rein!
Hilbig
kommt mit einem kleinen Schränkchen herein, auf dem eine
Schüssel mit Waschwasser steht. Der Wächter reicht ihm noch
die Alu-Kaffeekanne nach und schließt die Tür wieder ab, um
die nächste Zelle aufzuschließen. Bevor Hilbig sich
wäscht und anzieht, schenkt er sich erst einen Kaffee ein,
schimpft auf die lauwarme Brühe und setzt sich auf den Kübel
und drückt und presst stöhnend bis er rot wird.
Währenddessen schloss Meister Steinert Dr. Niemanns Zelle
auf.
Dr. Niemann:
Verwahrraum 52, Hm. Strafgefangener Dr.
Niemann, Guten Morgen, Herr Meister!
Meister
Steinert:Guten Morgen, Strafgefangener
Niemann!
Dr. Heinz
Niemann erledigt die morgendliche Toilette wie ein Spitzensportler und
sitzt als erster am Gittertisch, trinkt seinen Malzkaffee und schmiert
sich Margarine auf eine Scheibe Graubrot, anschließend Marmelade.
Dann sieht er sich diesen Fraß an, nickt verneinend vor Abscheu
den Kopf und rammt sich mit Ekel im Gesicht die Brotschnitte in den
Hals. Währenddessen schloss Meister Steinert Ulli Beckers Zelle
auf.
Wärter:
Na, dann kann’s ja losgehen mit den
Vorkommnissen. Komm’ Se, komm’ Se in Schwung, da vergeht
die Zeit schneller!
Ulli Becker trödelt vor sich hin, ist ständig in
Selbstgespräche verstrickt, bevor er seine Morgentoilette
vornimmt. Die Zellentüren sind alle zu, der Meister verlässt
den Keller, im off sind die Stiefeltritte treppauf zu hören und
das Verschließen einer Gittertür. Langeweile am Morgen.
Jeder brabbelt irgendwas vor sich hin.
Hilbig
(der sich langsam angezogen hat und
auf der Pritsche liegt): Zynismus oder
Zyankali. Hey Doktor, was is’n gesünder?
Dr. Niemann: Zynismus
oder Zyankali? Tja, der real existenz-zierende Zynismus ist ja nach
Marx die Vorstufe des Kommunismus. Hm. Wenn wir den erreicht haben,
darf sich die Gesellschaft bekanntlich auf ihre Fahne schreiben:
‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen!‘. Hm. Und dann, mein Lieber, dann darfst Du
endlich so viel Zyankali oder Zynismus konsumieren wie Dein Herz
begehrt.
Hilbig:
Danke Doktor, Du machst mir
große Hoffnung!
Dr.
Niemann: Ich nicht. Bedanke Dich bei Charly Marx!
Becker: Ja, Karl Marx hat tatsächlich voraus
gesehen… äh, dass in einer höheren Phase der
kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der
Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz
geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden
ist…
Hilbig
(feixend): Der kennt sein’ Marx auswendsch! Haa,
haaa…(Hilbig
steht wieder von seiner Pritsche auf und läuft in der Zelle
umher)
Abraham: Ja, der kennt seine rote Bibel! Aber ich meine
auch!(Dabei
hält er seine schwarze Bibel hoch.)
Becker: … äh…nachdem
die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste
Lebensbedürfnis geworden; nachdem… äh…nachdem mit der allseitigen Entwicklung
der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen
und… äh…alle Springquellen des
genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann
der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden
und…
Dr.
Niemann: Halts Maul! Der Horizont ist längst
überschritten! Ich sehne mich nach dem bürgerlichen
Rechtshorizont zurück!
Becker: Nee! Wir haben den Horizont nach Marx eben noch lange
nicht überschritten!
Dr.
Niemann:UmHimmels Willen! Das kann ja nur
noch schlimmer werden, wenn wir jetzt schon mit diesem Linkshorizont,
hm, wo im Namen des Volkes das Volk bei den Prozessen ausgeschlossen
wird… Nee! Wie lässt sich das dann im Kommunismus noch
steigern, hm?
Becker: Leute, Ihr dürft doch nicht von unseren jetzigen
Erfahrungen ausgehen. Das hat doch Marx weder gewollt noch gemeint. Das
hat doch nichts mit Sozialismus… äh…geschweige denn mit
Kommunismus zu tun!
Hilbig:Recht hat er! Wir leb’m im real existierendn
Feudalismus. Das ist der Fortschritt uff der Stufenleiter von Karl
Murx! Nur leider führt die Jacobsleider, die ins himmlische
Paradies führ’n soll, nach untn!
Abraham: Ja, direkt in die Hölle!
Becker: So ’n Unsinn! Marx hat in seinem objektiven
Geschichtsgesetz erkannt, dass es mal eine Gesellschaft geben wird ohne
Staat, ohne Unterdrückung, ohne Ungerechtigkeit, weil in der
klassenlosen Gesellschaft alle Menschen gleichberechtigt sein
werden…
Hilbig: Sind wir doch jetzt schon! Wir habn alle die selbn Sachen
an, kriechn jedn Tag denselben Fraß, wer’ n alle von eem
Erzieher erzogn, na, wenn das keen Kommunismus is, dann weeß isch
ooch ne, was das sein soll.
Dr.
Niemann: Hilbig hat völlig Recht! Wir sind schon jetzt der
Menschheit ’ne ganze Epoche voraus….
Becker: Hört zu, Freunde! Marx hat gesagt:
‚Die Theoretischen Sätze der
Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, Prinzipien, die von diesem
oder jenem Weltverbesserer‘… äh… erfunden oder entdeckt sind.
Nein, sie sind, wie Marx sagt… äh, ‚nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher
Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes‘, ja, einer…‘einer unter unseren Augen vor sich gehenden
geschichtlichen Bewegung‘.Begreift Ihr das?!
Dr.
Niemann: Allgemeine Ausdrücke tatsächlicher
Verhältnisse – oh, wie wahr! Das können wir auf die
anschaulichste Weise wahrnehmen.
Hilbig: Klassenkrampf! Jawoll!
Abraham: Da würde ich doch lieber mit Heidegger… oder
noch lieber mit Paulus dagegen setzen…
Erzieher Urian (aus dem
off): Ruhe hier unten!
Dr. Niemann (halblaut):
Oh, unser Erzieher hat seinen Dienst
angetreten!
Abraham: So früh schon?
Hilbig: Nu, wir mach’ ihm viel Oorbeit, wir Verbrecher
wir.
Erzieher
Urian: Ruhe da unten!
Alle schweigen, beschäftigen sich nun individuell:
Becker liest in seiner Bibel; Hilbig legt sich auf seine Pritsche; Dr.
Niemann sitzt auf seiner Sitzplatte und schüttelt nur mit dem
Kopf, stützt den Kopf in die Hände und schluchzt; Becker
läuft sprechend wie ein Lehrer in seiner Zelle auf und ab, ruft
einzelne Schüler beim Namen auf, als hielt er eine
Geschichtsstunde. Dann lacht er über sich selber und lässt
sich auf die Pritsche fallen, um laut zu sinnieren.
Becker: Nichts kann die immer häufigere Wiederkehr jener
Augenblicke verhindern, in denen absolute Ohnmacht… äh, das
Gefühl einer totalen Leere und die Ahnung, dass die eigene
Existenz auf ein schmerzhaftes und endgültiges Desaster
zuläuft… Wenn mich noch der Glaube an eine bessere Welt
verlässt… äh, dann bin ich geliefert… Erledigt!
Aus und vorbei! Nein! Tausendmal Nein! Ich muss meinen Kindern und
Schülern ein Vorbild bleiben, ich muss… ich
muss… äh… Nur durchhalten? Ich darf nicht versteinern.
Ich muss lebendig bleiben. Ich muss! Die Schüler brauchen gute,
ehrliche Lehrer, ja Lehrer… äh, die ihnen Vorbild sein
können…
Abraham
(auf dem Blechsitz am Gitter sitzend:
erst leise, dann immer lauter aus der Bibel lesend): Die Gefangenschaft des
Paulus und die Verkündigung des Evangeliums: Ich lasse euch aber
wissen, liebe Brüder: Wie es um mich steht, das ist nur mehr zur
Förderung des Evangeliums geraten. Denn dass ich meine Fesseln
für Christus trage, das ist im ganzen Prätorium und bei allen
andern offenbar geworden, und die meisten Brüder in dem Herrn
haben durch meine Gefangenschaft Zuversicht gewonnen und sind umso
kühner geworden, das Wort zu reden ohne Scheu...
Hilbig
(schon wieder auf dem Kübel
sitzend): Gefängnis…dieses Wort will das Zimmer nun nicht mehr verlassen.
Unbeweglich hocke ich auf dem Schreibtischstuhl und lausche dem
zähen Geräusch dieses halblauten Wortes nach, das irgendwo
zwischen diesen vier Wänden zur Ruhe gekommen ist, ein
scheußliches Insekt, das sich niederließ… eine Ratte,
die sich in meiner Behausung eingenistet hat. Aber nicht erst seit
heute, es lässt sich nur jetzt erst feststellen, dass die
Bedeutung des Wortes hier wohnt…(Ein
dröhnender Furz beendet die Grübelei)
Dr. Niemann (langsam auf
und ab gehend, bei jedem Hm verharrend): Gefängnisse werden aus den Steinen der Ideologie
errichtet, die Gitterstäbe schützen uns vor ihrer
erdrückenden Dummheit. Hm. Oder was sagte Faust bei Goethe
so blöde?‚In diesem Kerker, welche
Seligkeit‘Hm. Wir haben Blechblenden vorm Fenster. Nicht mal
karierte Wolken dürfen wir sehen. Hm. Ohne Aussicht kommt man
besser zur Einsicht. Mein Gedächtnis häuft zusammengebrochene
Horizonte an.
Hm. Jetzt sind wir Prediger der
Freiheit. Und dann, wenn wir mal draußen sind? Was
dann?(fast
schreiend): Dann werden wir Prediger des
Hasses sein! Hm.
(längere Pause) Vielleicht
sitzen wir hier nur im Elfenbeinturm? Wer weiß das schon? Hm. Wer
hier unten nicht zu sich selber findet, der findet sich nirgendwo mehr
zurecht, in der bunten Freiheit des Westens schon gar nicht. Hm.
Für uns Knastologen ist das Gedächtnis die einzige Aussicht
in ein Universum. In ein Universum des Nichts. Hm. Je kürzer das
Geständnis war, je länger darf man hier sitzen. Hm.
(schüttelt verzweifelt den
Kopf)
Man hört
im off Schlüsselgeklapper und dass ein Kübel die Treppe
heruntergetragen wird. Die Gefangenen schnappen sich ihre Schüssel
und stellen sich an die Gittertüren. Meister Steinert öffnet
die Türen. Die Häftlinge halten hintereinander ihre
Schüssel aus der Tür und ziehen sie nach einem Schlag Suppe
wieder herein, setzen sich an den Blechtisch, während der
Wärter Steinert
beim Einschluss murmelt: Lassen Sie sich’s schmecken!Und manche
antworten:Danke,
Herr Meister!
Hilbig: Kalter Fraß wieder! Schweinerinde mit Borst’
n. Ekelhaft!
Dr. Niemann
(singend): Mein idealer Lebenszweck / Ist Borstenvieh, ist
Schweinespeck.
Hilbig: Doktor, Du bist und bleibst eben ein Schwein.
Dr. Niemann (pikiert den
Kopf schüttelnd): Also, ich bitte
Dich!
Hilbig: Frauenarzt sein und Schweinspeck lieb’ n, das
is’ doch verdächtig, oder?
Dr.
Niemann: Erstens liebe ich keinen Schweinespeck, auch nicht an
Frauen, und zweitens habe ich nur aus der Strauss-Operette ‚Der
Zigeunerbaron zitiert, Du Prolet!
Abraham: Pass auf, Heinz! Zigeuner darfst Du dann im Westen nicht
mehr sagen, nur noch Sinti und Roma.
DR. Niemann:Ich habe mir hier im Osten
nicht den Mund verbieten lassen, dann doch im Westen erst recht
nicht.
Abraham: Na, Du wirst schon sehen, welche fortschrittlichen Leute
es dort gibt, die Dir vorschreiben wollen, wie Du etwas zu sagen und
damit zu denken hast. Oder guckst Du kein Westfernsehen?
Dr. Niemann:
In meiner Familie gab’s nur
Westfernsehen. Oder denkst Du, ich habe mir den Chefkommentator Eduard
von Schnitzler… den Sudel-Ede zugemutet? Dieser adlige Prolet war
doch in der Zone der größte
Herzversagen-Verursacher.
Hilbig
(lachend): Gut gesagt, Doktor!
Abraham: Na, lieber Doktor, ist Dir aber nicht aufgefallen, dass
die linksextremen 68er in ihrem Marsch durch die Institutionen schon
ganz oben angekommen sind?
Dr.
Niemann: Nun übertreibe mal nicht! Solange Gerhard
Löwenthal noch sein ZDF-Magazin moderiert, Axel Springer als
Verleger noch nicht enteignet ist und Franz Josef Strauß im
Bundestag noch seinen Mund aufmachen darf, sehe ich da noch keine zu
großen Gefahren.
Abraham: Na, Du wirst Dich noch wundern und dann vielleicht mal an
mich denken.
Becker: Ruhe! Da schleicht was!
Alle lauschen. Plötzlich wird Beckers
Tür aufgeschlossen und Oberleutnant Urian steht im Vorraum der
Zelle.
Becker: Herr Oberleutnant, Strafgefangner Becker…
Erzieher Urian (hat einen
Brief in der Hand): Hier, Strafgefangner
Becker, ein Brief von Ihrer Frau.Becker will zugreifen, aber Urian hält
ihn fest und sagt:Erst den letzten Brief Ihrer Frau zurück!
Becker kramt in seinem kleinen
Schränkchen, holt den Brief heraus und übergibt ihn den
Oberleutnant, der ihm nun erst den neuen Brief aushändigt. Becker
drückt den neuen Brief beglückt an sein Herz, bevor er ihn
küsst. Nach dem Zellenzuschluss erscheint Urian in der Zelle Dr.
Niemanns.
Dr.
Niemann: Verwahrraum 51, Strafgefangener Dr. Niemann, Guten Morgen
Herr Oberleutnant!
Urian: Ich wollte Ihnen nur
mitteilen, Strafgefangener Niemann, dass Ihr Brief wieder nicht
abgeschickt werden konnte.
Dr.
Niemann: Warum nicht?
Urian: Sie sind lange genug hier, Strafgefang’ner Niemann. Wenn
Sie’s nicht lernen wollen, wie man normale Briefe schreibt, dann
ist das Ihr Problem!
Urian schmeißt die Tür ins Schloss,
schließt die Tür ab und geht die Treppen hinauf.
Alle anderen Häftlinge
erstarren und lauschen. Becker wälzt sich wie ein Epileptiker am
Boden.
Urian: Ruhe da unten!
Abraham: Hey, was is’ los, Ulli?
Soll’n wir Hilfe rufen?
Alle lauschen, aber Becker antwortet nicht, wälzt sich
mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden.
Hilbig: Becker! Becker, sag’ doch was!
Aber Becker antwortet nicht; alle
anderen Häftlinge laufen aufgeregt wie gefangene Tiger in ihrem
Käfig hin und her. Becker schleppt sich nach einer Weile
schluchzend auf die Pritsche und heult und heult.
Hilbig: Becker, sag’ doch was!
Abraham: Ulli, bitte gib ein Zeichen! Wir sorgen
uns…
Wieder
laufen alle hin und her, Dr. Niemann stets seinen Kopf schüttelnd.
Becker liegt bäuchlings auf der Pritsche und heult.
Abraham: Bitte Ulli, sag was!
Becker rafft sich hoch,
sitzt auf der Pritschenkante, den Kopf in die Hände gestützt
und murmelt: Scheidung…
Scheidung…
Abraham: Ulli, ich kann nichts verstehen. Was ist los?
Becker (schluchzend):
Meine Frau… huhh…hat…
huhhu… die Scheidung eingereicht…Becker lässt sich wieder bäuchlings
auf die Pritsche fallen und heult.
Abraham:Um Gottes Willen –
Scheidung…
Hilbig: Nu, Becker, nimm’ s doch gelassn. Im Westn
gibt’s genug Fraun, die uff Dich wartn.
Becker (sich wieder von
der Pritsche erhebend und leise): Ich will
nicht in den Westen! Ich will bei meinen Schülern bleiben,
äh…bei meiner Familie, meiner Frau…(schluchzt, dann
lauter)Ich
kann’s nicht glauben. Äh…der Brief ist
gefälscht!
Dr.
Niemann: Der Stasi ist alles zuzutrauen. Hm. Doch den Frauen leider
auch.
Abraham:Jesus hat Frauen immer verehrt,
verteidigt und gewürdigt. Deshalb hat er auch so viele
Nachfolgerinnen. Er machte keinen Unterschied zwischen den
Geschlechtern.
Dr.
Niemann: (verhalten und
kopfschüttelnd): Oje, wer stillt die
Lust meiner Frau? Bleibt sie mir treu? Hm. Werden mich meine Kinder
vergessen?
Abraham: Was empfinden meine Eltern, meine Schwester? Und meine
Martina? Werden wir uns gesund wiedersehen?
Dr.
Niemann: Wer hält mir einen Platz frei im Leben? Hm? Meine
Kinder mussten lange genug meine Dummheiten ertragen. Hm. Nun sind sie
alt genug, sie selber zu machen.
Abraham: Heilt die Zeit alle Wunden? Oder heiligt ein Wunder diese
Zeit? Oh, ich glaube, der Schlaf ist das beste Mittel gegen die Zeit,
die unser Leben ist…
Hilbig: Das wertvollste, was der Mönch besitzt, is sei
ummauertes Lebn.
Abraham:Das Gebet sollte so bedenklich
sein wie die Ruine einer Gewissheit.
Dr.
Niemann: Gott hebt sich durch das Nichts und das Nichts durch Gott
auf. Hm. Bloß gut, dass Frauen keine Götter…hm…
sondern nur Göttinnen sind.
Abraham:Frauen, sagte mal einer, sind
die schönsten Früchte am Baum des Lebens.
Dr. Niemann:
Ach, Abraham! Du willst mir doch nicht
weismachen, hm, dass Du die Frauen besser kennst als ich.
Hm…(lacht) Du
Naseweis!
Abraham: Und Du glaubst doch nicht, dass Du Frauen besser kennst,
nur weil Du ihnen beruflich immer zwischen die Beine gucken
durftest.
Dr.
Niemann: Oh doch! Du wirst doch zugeben, dass es zwischen Innen und
Außen einen Zusammenhang gibt, oder?
Abraham: Na und?
Dr.
Niemann: Und was man da oft zu sehen bekommt, das würde alle
Deine Erwartungen sprengen. Hm. So schlecht kannst Du gar nicht denken,
wie es mir manchmal werden wollte.
Hilbig: Nu lass doch mal was guckn, Doktor!
Dr. Niemann:
Nein, ich werde selbst unter widrigsten
Umständen mein ärztliche Schweigepflicht nicht verletzen.
Hm…Vielleicht nur ein Kuriosum. Hast Du schon mal’ ne Frau
mit zwei Vaginas gesehen?
Hilbig: Nu, so was könntn de meistn Männer gebrauchn. Da
braucht’n se ni sooft fremd zu gehn.
Abraham: Aha! Nun seid Ihr wieder beim Thema eins.
Dr. Niemann:
Ach, der Theologe ist schon satt. Hm. Dabei
gehen wir äußerst sanft mit diesem Thema um. Oben in den
Massenzellen geht’s da ganz anders zur Sache. Hm. Vor allem bei
den Kriminellen.
Hilbig: Oja, das kannste laut sachn, Doktor!
Dr. Niemann:
Nee, muss ich ja nicht. Ist ja so schön
intim hier unten. Hm. Aber mal was Praktisches aus meiner Praxis. Hm.
Kam mal’ ne Frau zu mir und sagte: ‚Herr Doktor, ich glaube
meine Spirale is’ im Arsch!’
Hilbig:Na und?
Dr. Niemann:
Gnädige Frau, konnte ich da nur
erwidern, hm, dort gehört sie aber nun wirklich nicht
hin!
Hilbig feixt
grell.
Abraham: Nun sind wir wieder bei den Männerwitzen
angekommen!
Hilbig: Nu, da komm wir doch glei mal uff Dich zu sprechn. Biste
eigentlich ’n katholischer oder evangelischer
Theologie-Student?
Abraham: Ich komme aus dem Eichsfeld. Dort wachsen fast alle noch
katholisch auf.
Dr.
Niemann: Ach, Du armer Kerl. Da darfst Du ja gar keinen Sex
haben!
Abraham: Du wirst staunen, ich habe sogar ’ne
Freundin.
Hilbig: Ohne Sex?
Abraham: Wieso denn? Ich darf nur kein verheirateter Priester
werden wollen.
Dr.
Niemann: Wozu studierst Du dann Theologie?
Abraham: Nun, ich kann ja auch Religionslehrer werden oder
Wissenschaftler oder Diakon. Ich habe ja noch ein paar Nebenfächer
belegt.
Dr.
Niemann: Hm. Aber der katholischen Kirche kommt doch der
Priester-Nachwuchs abhanden, Hm. Oder irre ich da?
Abraham: In Deutschland kommt uns wohl überall alles
Wesentliche abhanden. Doch in den katholischen Gegenden gibt es
immerhin noch den meisten Nachwuchs, die wenigsten Ehescheidungen, die
geringste Kriminalität und…
Urian
(off): Verdammt noch mal! Ruhe da unten!
Alle, bis auf Ulli Becker, der
noch bäuchlings auf der Pritsche liegt und schluchzt, wandern in
ihren Zellen auf und ab. Nach einer Weile:
Dr.
Niemann: Verdammt noch mal! Jetzt ist Kaffe-Zeit. Hm.!
Hilbig: Man könnte ooch ’ne Tee-Party-Bewegung
meinen!
Abraham: Meinst Du die amerikanische Tea-Party-Bewegung? O ja,
für ’ne Tasse Jasmintee lasse ich gern mal alles stehn und
liegen.
Hilbig: Jasmiiin-Tee? Noch nie gehört. In welchm Konsum solls
’n den gebn?
Dr. Heinz Niemann und Theo Abraham lachen.
Dr. Niemann:
Hast wohl keene Westverwandtschaft? Hm? Oder
kein Westgeld für den Intershop?
Abraham: Aber wenn Dein Gedichtband bald im S. Fischer-Verlag in
Frankfurt am Main erscheint, dann dürftest Du ja im Westen nicht
ganz mittellos dastehen, wa?
Hilbig: Glaub’ch ni, dass Lyrik viel einbringt, wenn ich ni
noch ’nen Preis dafür bekomme.
Dr.
Niemann: Hm. Da musste ja harte politische Hetzgedichte dabei
haben, wenn sie Dir für Lyrik Knast aufgebrummt haben,
hm?
Hilbig: Äh! Überhaupt ni! Keene einzige polit’sche
Vokabel. Alles nur reine Poesie.(Nach einer Pause): Nu ja, es sei
denn… Ein Freund von mir, der hat ma nachgezählt, da solln
in dem Band aus sechsundsechzig Gedichtn fuffzich mal Schattn und Nacht
vorkomm. Außerdem verwendete ich da drin unbewusst fuffzich mal
die Adjektive dunkel, schwarz und düster…
Abraham: Na also! Ist doch logisch, dass Du hier sitzt. Wer so
düster unseren Arbeiter-und-Bauern-Staat abbildet, nee! Dazu noch
einer, der selber aus der Arbeiterklasse stammt. Na, das wirft ja
dicke, realsozialistische Rußwolken über unseren ersten
deutschen Friedensstaat, mein lieber Nestbeschmutzer!
Dr. Niemann:
Hm, Du bist ja ein ganz Raffinierter!
Hätte ich Dir gar nicht zugetraut. Hm, da werde ich mir wohl im
Westen mal meinen ersten Gedichtband zulegen müssen, nämlich
den Deinen. Wie heißt er denn eigentlich, hm?
Hilbig: Abwesnheit.
Urian: Ruhe da unten! Es knallt
gleich! Solche Ochsen da unten!
Hilbig (leise):
Muh, muh!
Dr.
Niemann (leise und den Kopf
schüttelnd): Abwesenheit, hm, abwesend
war ich schon lange in dieser Prolo-Diktatur…
Alle laufen wieder in ihren
typischen Posen hin und her, nur Ulli Becker hält breitarmig das
Gitter umfasst und schluchzt noch.
Hilbig
beginnt nach der Melodie der
Moorsoldaten in Richtung des Publikums zu singen: Cottbus heißt die öde Stätte, mit der
roten Strafanstalt, zwingt politische Gefangne hier zu langem
Aufenthalt…
In
den Refrain fallen alle vier Häftlinge, dabei immer lauter
werdend, mit ein: Das ist das Zuchthaus
Cottbus, Symbol des Sozialismus in Aktion(jetzt trommeln dabei alle mit auf den Blechtischen: wumm,
wumm, wumm!), in Aktion(wumm, wumm, wumm!),
in Aktion…(wumm, wumm, wumm!)
Obermeister RT schließt hastig
Hilbigs Zelle auf und brüllt mit hoch erhobenen Gummiknüppel:
Das Singen vergeht Euch noch! Das gibt
Arrest!
Hilbig brüllt:
Ich kann gar nich sing’! Ich kenn den
Text gar nich!
RT:
Ich habe Ihrn sächsischen Tenor genau
herausgehört! Sie kennen ja die Hausordnung! Rufen, Klopfen,
Pfeifen, Singen und sich sonst wie bemerkbar machen – verboten!
Der Obermeister
hält inne und hört die weiteren Strophen des Liedes aus den
anderen Zellen.
Ohne
Hilbigs Zelle zu schließen, öffnet er die Nachbarzelle und
droht wieder, doch Abraham
hebt die Hände: Bei Gott, ich singe doch nur im Kirchenchor!
Die jeweils anderen Häftlinge
singen weiter: Uns umgeben hohe Mauern, und
das Leben wird zur Qual, doch wir werden nie bedauern, was uns Vernunft
zu tun befahl…
RT hetzt zur nächsten Zelle, wieder die
äußere Tür offen lassend, und schließt sich in
die nächste Zelle: Ruhe oder es
knallt!
Dr. Niemann macht Meldung: Herr Obermeister, Verwahrraum…
RT (brüllt):
Schnauze! Sie haben gesungen! Das gibt
Arrest!
Dr.
Niemann:Ich kann gar nicht singen!
RT: Sie solln nicht noch lügen!
Dr. Niemann:
Fragen Sie doch meine Frau, die lacht sich
kaputt!
Während
die anderen Häftlinge wieder den Refrain singen, hastet
RT
zur letzten Tür: Strafgefangener Becker!
Sie haben gesungen. 21 Tage Arrest!
Becker: Aber Genosse Obermeister, ich…
RT: Sind Sie verrückt?!
Becker: Warum denn?
RT:Mich
mit Genosse anzusprechen?!
Becker: Entschuldigung, ich wusste doch nicht, dass man Sie aus
der Partei ausgeschlossen hat.
RT: Sind Sie verrückt?! Ich
bin Genosse, ja! Dreimal Ja! Aber doch nicht für Sie, Sie
Verbrecher, Sie!!!
RT hetzt wieder zurück zu Hilbig und brüllt:
So, jetzt habe ich Sie erwischt!
Hilbig: Wobei denn, Herr Obermeester?
RT: Beim Singen! Das gibt Arrest!
Hilbig: Den hamm wir doch schon!
RT: Jetzt gibt’s den verschärften. 200 Gramm
trocknes Brot. Sie kenn sich doch aus, wa?
Hilbig:Und warum?
RT: Weil Sie gesungen haben!
Hilbig: Ich rede mit Ihn’, da kann’ch doch gar nich
gleichzeitsch singen!
Während die anderen
Häftlinge jeweils weitersingen: Richtung
Westen geht das Sehnen, dorthin, wo man Freiheit kennt. Nichts
verbindet uns mit denen, deren Macht das Leben hemmt…
stürzt RT wieder in Abrahams
Zelle:
So,
Strafgefangener Abraham, woll’n Se noch immer behaupten, nicht
gesungen zu haben?!
Abraham: Selbstverständlich, Herr Ober…
RT:Schnauze, Sie Lügner!
Abraham: Aber, Herr
Ober…
RT: Schnauze! Ich bin kein
Ober!
Abraham:Sie lassen mich ja nicht
ausreden!
RT:Sie
haben gesungen!
Abraham
(hustend):Um Gottes Willen, ich habe Sie nicht
besungen. Ich schwörs vor Erich Honecker, Herr
Ober…!
RT: Ich bin kein Ober! Das
könnte Ihnen wohl so passen?
Abraham (Hacken
zusammenschlagend):Jawoll, Herr Oberst!
RT: So, für Ihre Frechheiten kriegen Sie jetzt zweimal 21
Tage!
Abraham: Ist das ’n Sonderangebot?
RT (mit dem
Gummiknüppel durchs Gitter drohend): Wir
könn’ auch anders!
Abraham: Das glaube ich nicht! Ihr Knüppel, der sozialistische
Wegweiser, der kann doch nur knüppeln!
RT (hysterisch
brüllend): So! Dreimal 21
Tage!
Währenddessen singen die anderen Häftlinge:
Einmal deutsches Volk erwache und erkenne
deine Macht. Öffne alle Kerkermauern, feg’ hinweg die rote
Schmach…
RT steht wieder in Dr. Niemanns Verwahrraum: So! Wolln Se jetzt zugeben, dass Se gesungen
haben?
Dr.
Niemann:Ich bin doch kein Genosse!
RT:Was hattn das damit zu
tun?
Dr.
Niemann:Gut, ich könnte ja auch fragen, ob ich
bescheuert bin?
RT:Gute
Idee. Sie dürfen jetzt den Kellergang und das Treppenhaus
scheuern!
Dr.
Niemann wird herausgeschlossen.
RT: Komm Se! Komm Se!Im off: Halt! Gesicht zur Wand!Nach einer Weile der
Schlüsselgeräusche: Komm’ Se!
Komm’ Se!
Während man RT in der Ferne noch
poltern hört: Aber zügig und alles
blitzeblank, sonst gibt’s Arrest! Verstanden?!
Dr. Niemann antwortet
zackig (im off):Jawoll, Herr Oberst!,singen die drei anderen
Abgesonderten den Refrain des Cottbus-Liedes: Das war das Zuchthaus Cottbus, Symbol des Sozialismus, in
Aktion, in Aktion, in Aktion…
Dann eine Minute Stille. Die drei übrigen
Häftlinge laufen in ihren Zellen umher. Hilbig rüttelt an
den Gitterstäben und ruft: Doktor
Niemann! Heiiiiiiiiinz, hörste mich?
Becker: Na, Niemann wird wohl von oben nach unten schrubben
dürfen.
Alle
bleiben plötzlich stehen, halten inne und hören den
Erzieher Urian in der Ferne (off) schreien: Was?! Unglaublich! Das ist ja Aufruhr!
Meuterei!
Nach einer
Pause: Und was machen Sie hier?!
Dr. Niemann (im
off): Ich putze Ihre Treppe hinauf, die hinab
führt.
Urian
schreit RT an: Keiner dieser, dieser Verbrecher… keiner von denen
darf hier arbeiten!
Dr. Niemann: Das verstehe ich gut, Herr Oberleutnant, denn Arbeit macht
frei, hm, das wussten schon Ihre Vorgänger.
Urian: Halten Sie Ihr loses Maul!Und zu RT gewandt: Sofort in die Einzelunterbringung!
RT:Jawohl, Genosse Oberleutnant!
RTpackt den Gefangenen und
schubst ihn samt Eimer die Treppen hinunter. Man hört blechernes
Gepolter: Selber schuld, Sie Trottel,
Sie!
Dr. Niemann
(schreiend, winselnd): Au! Auaaa!
Dr. Heinz Niemann wird durch die offene Tür geschubst,
dann gegen das Gitter neben der Gittertür geworfen, dann
öffnet RT die Gittertür, schiebt mit Wucht den
50-jährigen Häftling mit nassen Klamotten in die Zelle,
stellt ihm ein Bein, so dass dieser bäuchlings auf dem
Fußboden landet und dort liegen bleibt.
Alle sind still. Nach einer Weile
beginnt Abraham Liegestütze zu machen, später Kniebeugen.
Becker schüttelt andauernd seinen Kopf und versucht ihn mit den
Händen fest zu halten.
Hilbig gähnt hemmungslos und beginnt bald eigene Verse zu zitieren:
wie lange… (gähnt, dann energisch fortfahrend):
wie lange wird noch unsere Abwesenheit geduldet.
Keiner bemerkt, wie schwarz wir angefüllt sind,
wie wir in uns selbst verkrochen sind -
in unsere Schwärze…
Abraham(fortfahrend):
Nein, wir werden nicht vermisst.
Wir haben stark zerbrochene Hände, steife Nacken –
das ist der Stolz der Zerstörten; und tote Dinge
schaun auf uns, zu Tod gelangweilte Dinge – es ist
eine Zerstörung, wie sie nie gewesen ist…
Dr. Niemann(am Boden liegend, den Kopf hebend, murmelt mehr recht als schlecht):
Und wir werden nicht vermisst. Unsere Worte sind
gefrorene Fetzen und fallen in den geringen Schnee,
wo Bäume stehn, prangend weiß im Reif – (jetzt zornig und energisch): ja und
reif zum Zerbrechen…
Becker:
Alles, das Letzte ist in uns zerstört, unsere Hände,
zuletzt zerbrochen unsere Worte. Zerbrochen: komm doch,
geh weg, bleib hier – eine restlos zerbrochene Sprache,
einander vermengt und völlig egal in allem,
und der wir nachlaufen und unserer Abwesenheit…
Hilbig:
nachlaufen, so wie uns am Abend
verjagte Hunde nachlaufen mit kranken
unbegreiflichen Augen.
Eine
Minute lang Ruhe. Alle Häftlinge lauschen, Dr. Niemann steht
langsam auf und begibt sich zur Gittertür. Die anderen
Häftlinge ebenfalls.
Dr.
Niemann: Hört ihr? Dann noch einmal
lauter: Hört ihr?!
Becker: Was denn?
Abraham:Da kommt was auf uns zu.
Höre ich richtig?
Hilbig:Hunde, Hunde!
Dr. Niemann:
Hunde, wollt ihr ewig leben?
Abraham (erstaunt):Tatsächlich, kläffende Hunde.
Hilbig: Ihr habt wohl Angst vor den Ködern?
Dr. Niemann: Ich liebe
Hunde, habe selber schon vier gehabt.
Hilbig: Heute hamm wir den Roten Terror zum Hasn
gemacht.(lacht)
Becker: Die werden sich rächen. Die Hunde sind gegen
uns.
Dr.
Niemann:Ja, auf uns abgerichtet.
Hilbig: Ihr müsst se füttern! Habt wohl selber nichts
mehr zum Fressen?
Becker (in seinem
Schränkchen herumkramend):Nur noch ’n Stückl vergammelten
Sachsenspeck.
Dr.
Niemann: Das musste dem in den Rachen schmeißen, schon haste
einen Freund mehr auf diesem Planeten!
Jetzt erst hört der Zuschauer aus der Ferne
das immer lauter werdende Hundegekläff. Dann wird zuerst Hilbigs
Tür geöffnet, der Hund springt ans Gitter und kläfft
wütend. Er ist an der Leine von RT.
Oberleutnant
Urian (drängt sich ebenfalls in
die Zelle und brüllt): So, jetzt is
Schluss mit lustig! Sie haben gesungen, Hilbig!
Hilbig: Wenn ich singe, Herr Leitnant, dann zieht’s
Ihn’ de Schuhe aus.
Urian (wutschnaubend): Sie!
Siiieeeee!!!
Becker (aus seiner Zelle
rufend): Herr Oberleutnant! Ich hab’
gesungen.
Urian: Wer war das?!
RT: Das war Becker!
Beide stürmen aus dem
Verwahrraum, lassen die Tür offen stehen und öffnen die
Zellentür von Becker.
Becker: Herr Oberleutnant, Verwahrraum 52 mit
einem…
Urian (brüllend): Schnauze!Dann gedämpft fortfahrend: Sie haben gesungen?
Becker: Jawohl, Herr Oberleutnant, ich habe gesungen.
Urian: Sie kennen die Hausordnung?!
Becker: Die ist veraltet. Sie haben doch bestimmt die Schlussakte
von Helsinki gelesen. Die war im Neuen Deutschland abgedruckt. Die hat
auch Genosse Honecker…
Urian: Nehmen Sie nicht unseren
Genossen Honecker in den Mund, Sie Staatsfeind, Sie!!!!
Becker: Er hat dieses Menschenrechtsdokument
unterschrieben!
Urian: Sie kennen die
Hausordnung?!
Becker: Ja.
Urian
(aufgeregt die Gittertür
aufschließend): Und da erlauben Sie
sich…(sich in
eine Wutphase hineinsteigernd) Und da
erlauben Sie sich… Gegen die Hausordnung… Gegen geltendes
Recht im Arbeiter- und Bauernstaat… Gegen uns…
Becker: Ja.
Urian packt Becker an der Gurgel und schlägt seinen
Kopf rhythmisch an die Wand.
Becker reißt die
Hand des Erziehers herunter und ruft: Singen
ist Menschenrecht!
Urianspringt zurück und zückt
aus der Hosentasche seinen ausziehbaren Schlagstock.
Becker singt trotzig:
Brüder zur Sonne, zur…und Urian schlägt zu,
während Becker sich mit Armen zu schützen versucht und
weitersingt: …zur Sonne, zur
Freiheit… Jetzt kommt auch RT dazu und beide schlagen nun rhythmisch
auf den in die Knie gegangenen Gefangenen ein, während Hunde
wütend bellen.
Dr. Niemann ballt die Fäuste und schüttelt nur
mit den Kopf, während Abraham auf die Knie
sinkt, die Arme flehentlich in den Himmel streckt und ruft:
Herr, erbarme dich…
Hilbig (demoliert
währenddessen seine Zelle, schmeißt alles wütend gegen
das Gitter, kippt seine Pritsche um und schreit): Ihr rotn Nazi-Schweine! Ihr Stalinistn, Ihr Verbrecher,
Ihr Drecksäue, Ihr!
Oberleutnant Urian verlässt wütend Beckers Zelle,
alle beiden Türen offen stehen lassend, und zieht RT mit sich, der
wiederum den Hund mit sich zieht. (Im off hört man sie die Treppen
hinauf hasten.)
Becker
(der blutig geschlagen am Boden
liegt, schreit dem Oberleutnant nach): Sie
Faschist, Sie!
Urian
(im off):Habn Se das gehört? Ins Protokoll! Er
hat mich Faschist genannt. Mich! Das rechtfertigt jede
Gewaltanwendung!
RT:Jawoll, Genosse
Oberleutnant! Ich hätte noch viel mehr…
(Man hört beide die Treppen
aufsteigen; das Hundegebell verebbt in der Ferne.)
Becker (robbt
blutverkrustet zur äußeren Tür und ruft): Kameraden! Meine Türen sind offen.
Hilbig: Hey Ulli, lebst’ de noch?
Abraham: Gott sei Dank!
Becker: Achtung!
Meister Steinert taucht
unerwartet auf und geht rasch auf dem am Boden liegenden zu:
Strafgefangener Becker, wo wollen Sie denn
hin?
Becker (aufschauend):
Das weiß ich selber nicht!
Steinert (wischt dem am
Boden Liegenden das Blut vom Gesicht und hilft ihm anschließend
wieder auf die Beine): Können Sie wieder
aufstehn?
Becker
(mühsam aufstehend):
Nichts leichter als das!
Steinert: Jawoll! Wollen, das ist alles!
Becker: Und nun?
Steinert: Wie gehabt – alles beim Alten! Fertig machen zur
Nachtruhe!Dann noch
einmal laut für alle Häftlinge: Fertig machen zur Nachtruuuuuuu-he!
Alle Türen werden
aufgeschlossen, jeder stellt sein Schränkchen mit Schüssel
darauf vor die Tür, nacheinander geht jeder seinen Kübel
entleeren. Man hört im off Blechgeklapper und
Wasserspülgeräusche.
Anschließend wünscht Meister
Steinert allen beim Einschluss abwechselnd: Trotz alledem – Gute Nacht!oderGute Träume!und löscht von außen nacheinander
das Licht in den Zellen.
Hilbig:
… Nacht, ich beschwöre dich,
Schläfre mich ein, lass bleiern meine Glieder dahinsinken
Lass mich haben, wollen, fressen, trinken
das Nichts
des Lichts
Grelle wende ab von mir
und jeden Schein,
und mach mich stumm und taub und blind dem Sein…
Eine Minute Stille und Dunkelheit auf der Bühne. Nur
ganz in der Ferne ist Hundegejaule zu hören, das in schmachtende
Musik (eventuell Kinderchor aus dem Abba-Song I Have A Dream)
übergeht. Drei leicht bekleidete Tänzerinnen geben eine
Tanzeinlage (ca. 3 bis 5 Minuten) bei spärlicher Beleuchtung und
Nebelwallungen, die erotischen Träume der Häftlinge
verkörpernd…
Siegmar Faust: Erziehung durch Einzelhaft Zweiter Akt
2. Akt
Im off ruft Wachtmeister Steinert:Zäääää-hääääh-lung!
Dann geht nacheinander das
Licht in den Zellen an. Vier Häftlinge quälen sich auf
verschiedene Weisen von den Pritschen. Sie stellen sich in
verschlissenen Nachthemden mit dem Rücken zum Publikum und
erwarten mit Händen an der nicht vorhandenen Hosennaht den
Aufschluss der Tür. Links, die Zelle von Theo Abraham, wird zuerst
geöffnet.
Meister
Steinert: Na, Sie Staatsgefangner, da holn Se sich mal ihren
staatlichen Kaffee rein.
Abraham erledigt langsam und mit Würde die gewohnten
morgendlichen Arbeiten: Bettenbau, kleine Notdurft in den Kübel,
dann Zähneputzen überm Kübel, Katzenwäsche in der
Schüssel, anziehen der Häftlingskleidung.
Frühstück. Währenddessen schloss Meister Steinert
Hilbigs Zelle auf.
Steinert (guckt ihn
milde, fast mitleidig an): Na komm’ Se, holn Se sich Ihr Zeug rein!
Hilbig kommt mit einem kleinen
Schränkchen herein, auf dem eine Schüssel mit Waschwasser
steht. Der Wächter reicht ihm noch die Alu-Kaffeekanne nach und
schließt die Tür wieder ab, um die nächste Zelle
aufzuschließen. Bevor Hilbig sich wäscht, rasiert und
anzieht, schenkt er sich erst einen Kaffee ein, schimpft auf die
lauwarme Brühe und setzt sich auf den Kübel und drückt
und presst stöhnend bis er rot wird. Währenddessen schloss
Meister Steinert Dr. Niemanns Zelle auf.
Dr.
Niemann: Verwahrraum 52, Hm. Strafgefangener Dr. Niemann, Guten
Morgen Herr Meister!
Meister
Steinert:Guten Morgen, Strafgefangener
Niemann!
Dr. Heinz
Niemann erledigt die morgendliche Toilette wie ein Spitzensportler und
sitzt als erster am Gittertisch, trinkt seinen Malzkaffee und schmiert
sich Margarine auf eine Scheibe Graubrot, anschließend Marmelade.
Dann sieht er sich diesen Fraß an, nickt verneinend vor Abscheu
den Kopf und rammt sich mit Ekel im Gesicht die Schnitte in den Hals.
Währenddessen schloss Meister Steinert Ulli Beckers Zelle
auf.
Meister Steinert:
Na, dann kann’s ja wieder losgehen mit
den Vorkommnissen. Komm’ Se, komm’ Se in Schwung, da
vergeht die Zeit schneller!
Becker: Warum, Herr Meister, dürfen
wir… äh…dürfen wir… äh… die wir
doch hier zu sozialistischen Menschen erzogen werden
sollen… äh… warum dürfen wir weder Schach spielen
noch Fachbücher lesen? Weder singen noch Sport
treiben… äh…nicht mal Notizen darf man sich
machen… äh… im Grunde genommen nichts, was Menschen zu
Menschen macht, obwohl doch Marx…
Meister
Steinert:Ach, Strafgefangener Becker! Das fragen Sie
mich? Das müssen Sie Ihren Erzieher fragen. Dazu wird der doch
bezahlt, nicht ich. Ich habe Sie hier lediglich zu bewachen, ein- oder
auszuschließen…
Becker: Und das macht Ihnen Spaß?
Meister Steinert:Spaß? Den hab’ ich zu Hause mit meinen
Enkelkindern. Dienst ist halt Dienst! Und in einem Jahr ist
Finis!
Becker: Rente?
Meister
Steinert:Verdientermaßen, wie ich
hoffe!
Becker: Ihnen gönne ich das… äh…
Ehrlich!
Meister
Steinert (ihm freundlich
zuzwinkernd): Lassen Sie sich nicht
unterkriegen! Auch das hier geht mal vorüber! Sie verbringen hier
höchstens zwei Jahre, aber ich verbrachte hier schon über 20
Jahre meiner Lebenszeit… Tja, so ist das.
Ulli Becker trödelt vor sich
hin, ist ständig in Selbstgespräche verstrickt, bevor er
seine Morgentoilette vornimmt. Die Zellentüren sind alle zu, der
Meister hat den Keller verlassen. Langeweile am Morgen. Jeder brabbelt
irgendwas vor sich hin.
Abraham(sich streckend):Jungs, ich fühle mich heute wie Martin Luther-King!
Ich hatte heute Nacht einen Traum…
Hilbig: Ich ooch!
Dr.
Niemann: Und was hast Du geträumt?
Hilbig: Ich träumte, dass sich eenes Tages diese halbe Nation
erhebn wird und de wahre Bedeutung ihrer Überzeugung auslebn
wird…
Abraham:Ich habe einen Traum, dass meine künftigen Kinder
eines Tages in einem Land leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Ideologie
oder Parteizugehörigkeit, sondern nach ihrem Charakter
beurteilt…
Dr.
Niemann: Sülze! Hm. Und Du, Ulli?
Becker: Gute Träume… Ich sah meine traumhafte Frau,
die… äh… die ich leider nicht mehr…(schluchzt)
Nach einer Weile der Ruhe ruft
Becker: Steinert ist
einer… äh, der trotz seiner Uniform ein Mensch geblieben
ist.
Dr.
Niemann: Hm. Ein uniformierter Mensch eben!
Abraham:Vor Gott zählt einzig der einzelne Mensch, nicht die
Uniform.
Hilbig: Dazu fällt mir Hegels Weltgeist ein… Nee, im
Ernst, dazu müsstn wir seine Herr-Knecht-Dialektik lesen,
da…
Dr.
Niemann: Ach, reichen Se das Buch Ihres Kollegen Hegel doch mal
rüber, hm, Herr Schriftsteller!
Hilbig: Hegel als Vorläufer von Karl Murx darfste sogar hier
in dorr DDR lesn, Herr Doktor!
Dr.
Niemann: Mir hat der Mist von Marx und Lenin gereicht. Hm. Musste
ja jeder im Studium mitstudieren. Hm. Egal, ob de Techniker oder Arzt
werden wolltest. Hm. Oder Philosophie oder Theologie. Hm. Da hatte ich
keine Lust, auch noch deren Vorläufer zu lesen…
Abraham:Das ist aber schade! Das haben
doch die Kommunisten bestimmt, wer die Vorläufer von Marx &
Co. waren. Hegel haben wir sogar an unserem Priesterseminar
behandelt…
RT: Ruhe da unten, Ihr
Verbrecher!
Hilbig: (nach einer
Weile der Ruhe): Wenn ich dem draußn
begegnen würde, ich gloobe, da würd ich mich gewaltsch
vergessn!
Abraham:An solchen Brutalos würd’ ich mir die Finger
niemals schmutzig machen. Die haben doch ihren Lohn
dahin…
Dr.
Niemann: An solche Märchen glaubst Du? Hm? Ist ja einfach
infantil!
Becker: Tja, als Christ soll man ja noch die andre Wange
hinhalten, nicht wahr?
Abraham:Wie willste denn dem ewigen Kreislauf der Gewalt, dem
alttestamentarischen Auge um Auge, Zahn um Zahn, also den
mörderischen Blutrachegesetzen anders entkommen?
Hilbig: Tja, wenn Dir eener uff die Wange haut, da kann ich
meinetwegn de andre noch hinhaltn. Aber wenn Dir so ’n
Folterknecht mitn Schlüsselbund Dein Gebiss zerdrischt, was
’n dann, hää?
Dr.
Niemann: Da müsstest Du, hm, um in Deiner Logik zu bleiben,
dem Folterknecht Dein Arschloch hinstrecken…hm… und ihn
sanft anscheißen.
Hilbig und Becker wiehern vor Lachen.
Abraham:Ich finde das weniger lustig…
Leutnant Urian:
Ruhe da unten!
Im off: Aufschluss von
Türen, Stiefeltritte. Unmittelbar vor den Zellentüren schreit
Leutnant Urian wieder: Wer hat hier
gelacht?!
Keiner
antwortet. Urian schließt die Tür zu Hilbig auf und schreit:
Haben Sie die Hausordnung wieder nicht
eingehalten?!
Hilbig: Wieso?
Leutnant
Urian: Wieso fragen Sie da noch??!!
Urian ruft seinen Genossen Schulz (RT) und weist
auf dessen Gummiknüppel, den RT unverzüglich in Bereitschaft
hält.
Leutnant
Urian: Sie
haben gelacht!
Hilbig: Sie könn gut lach’n! Wir hamm hier untn nichts
zu lach’n!
Und
schon drischt RT auf Hilbig ein.
Währenddessen ruft Abraham: Ich hab’ gelacht, Herr Leutnant!
Urian zieht RT mit sich. Beide
schließen sich in Abrahams Zelle hinein.
Leutnant Urian: So! Sie haben also
gelacht!
Abraham:Na und? Was ist daran konterrevolutionär?
Leutnant Urian: Sie
haben gelacht. Wer noch?!
RT hält schon wieder den Knüppel
bereit.
Abraham:Woher soll ich wissen, wer auf dieser Erde noch alles
gelacht hat? Das dürften Millionen gewesen sein…
Leutnant Urian: Hör’n Sie auf zu diskutieren, Strafgefangener! Sieben
Tage Arrest. Haben Sie verstanden?!
Abraham:Jawohl Herr Leutnant, sieben Tage Arrest wegen einer
menschlichen Regung. Danke schön!
Wütend wird Abrahams Zelle zugeschlossen,
danach hört man beide Uniformierten treppauf gehen und eine
weitere Gittertür verschließen.
Nach einer Weile der Ruhe ruft
Hilbig ziemlich erregt:Theo, Du brauchst hier untn nicht den Jesus zu
spieln!
Abraham
antwortet nicht.
Dr.
Niemann: Hilbig, denn Arrest hattest Du Dir eigentlich mit Becker
zusammen verdient. Hm. Oder sehe ich das falsch?
Hilbig: Erstens kannste das ni sehn, und zweetens haste
recht.(Nach einer
Weile):Ich hab
meine Prügl abgekriegt. Noch zwee Sekundn länger, dann
hätt’sch zurück gedroschen, aber gewalt’sch!
Dr. Niemann:
Dann hat Dich unser Jesus ja vor einer
erneuten Verurteilung gerettet. Hm? Widerstad gegen die Staatsgewalt.
Hm!
Hilbig: Das reicht nich. Ich hätte so zugeschlagn, dass der
nich wieder uffgestandn wäre…
Becker: Auch wenn Du mal Boxer warst… äh… gegen
RT hätt’ste wohl keine Chance gehabt. Zumal die zu zweit
waren.
Hilbig: Nu, unterschätze mal nich den
proletarisch-revolutionärn Zorn, der sich in mir angestaut
hat!
Becker: Marx, Lenin und Trotzki glaubten noch…
äh… im Gegensatz zu Stalin, an die Weltrevolution. Jetzt
kann ich mir… äh…’ne Revolution sogar schon in ’ner
Einzelzelle vorstelln…
Dr.
Niemann: Hm. Pass bloß auf, dass Du mit dieser abstrusen
Theorie nicht auch noch, hm, in die Weltgeschichte eingehst.
Hilbig: Eingehn tun wir alle mal. Bloß wohin, das könn
wir ni selber bestimm. Da sind wir wohl, wie Luther meente, uff Gnade
angewiesn. Oder was widerspricht da unser Katholik?
Abraham:Ja, nach Martin Luther spielt die Gnade des Herrn eine
größere Rolle als bei uns. Wir Katholiken glauben aber auch,
dass wir alle unser Scherflein zu unserer Seligkeit beitragen
müssen, sofern wir können…
Dr.
Niemann: Oder wollen! Hm. So landen wir schnell bei Herrn Tetzel
und seinem Ablasshandel.
Leutnant Urian:
Ruhe da unten!
Teufelspack!
Hilbig
(nach einer Weile): Hab ich das richtig gehört? Der hat unsre Thematik
uffgegriffn.
Becker: Dieser Oberteufel Urian glaubt gar noch, einer guten Sache
zu dienen…
Dr.
Niemann: Ja, Deiner! Hm. Von der Du auch nicht loskommen
willst!
Becker: Dieser hier praktizierte Sozialismus ist…
äh… eine völlige Pervertierung der Marxschen
Theorie!
Hilbig: Aus diesm Marx’schen Schrotthaufn kannste Dir eben
die perversesten Dinge zusammschraubn.
Abraham:Was lehrt uns das?
Dr.
Niemann: Hm, dass diese Weltanschauung nur Massenmörder
hervorgebracht hat…
Becker: Einspruch!
Dr.
Niemann: Abgelehnt! Willst Du etwa behaupten… hm… dass
sich Lenin, Trotzki, Stalin, Mao, Tito, Kim Il sung oder Castro, hm,
nicht auf Marx bezogen hätten?
Becker: Das möchte ich mal sehen, was diese…
äh… Diktatoren wirklich von Marx gelesen haben!
Hilbig: Das spielt doch keene Rolle! Wichtig is doch bloß
der asoziale Ausfluss dieser Theorie.(Nach einer kurzen Pause):Ich zitiere mal Marx aus einem
seiner Jugendgedichte: ‚Einen Thron will ich mir auferbauen, /
Kalt und riesig soll sein Gipfel sein, / Bollwerk sei ihm
übermenschlich Grauen, / und sein Marschall sei die düst’re
Pein!‘
(Nach
kurzer Pause):Das
is der innere Kern der Kommunistenführer, die sich angeblich
fürs Proletariat einsetztn. Diese düst’re Pein, das is genau
das, was ich als Prolet in der DDR täglich erlebte, von hier im
Keller ganz zu schweign...
Dr.
Niemann: Dabei sieht’s in anderen Kolonien der Sowjets…
hm… noch viel schlimmer aus, selbst im Stammland unsrer
‚Befreier‘!
Abraham:Und was lehrt uns das?
Dr.
Niemann: Nie einer Ideologie oder Religion vertrauen!
Hm!
Abraham:Du vermischst da zwei verschiedene Kategorien. Eine
Ideologie ist immer nur eine Ersatzreligion, benutzt von Diktatoren,
die selber gern Götter sein möchten. Der religiöse
Mensch hingegen weiß, dass er nicht das Maß aller Dinge
ist, also nicht der Schöpfer des Universums. Das macht ihn
bescheidener, demütiger, ja, einfach
menschlicher…
Dr.
Niemann: Mit dieser Haltung bleibst Du immer und
überall… hm… ein armes Schwein!
Abraham:Und was sagt unser Dichter dazu?
Hilbig: Ich bleibe lieber ’n armes Schwein, wenn ich dafür so
frei sein darf, das zu machen, was ich gern will: schreibn, lesn,
schreibn… Und wenn ich ohne Durst und Hunger oder Angst zu habn,
einfach so lebn und liebn kann, wie ich es will…
Becker: Genau das darf dann jeder im Kommunismus…
äh… weil da jeder nach seinen Bedürfnissen… da
darf jeder ohne von sich selber entfremdet zu sein…
äh… weil erst im Kommunismus…
Dr. Niemann (energisch):
Hör auf! Hm, ich kann das Wort
Kommunismus nicht mehr hören!
Hilbig: Nu, das reimt sich sogar: Sozialis-Mus, Kommunis-Mus,
Pflaumen-Mus, und als Krönung: Orgas-Mus.
Leutnant Urian (off):Ruhe! Seid Ihr noch dicht da
unten?!!
Hilbig
(nach einer Weile): Habt ihr gehört? Der hat sich schon unsrer Denkweise
angepasst. Wir dichten gerade und er meint, wir sein ni ganz dicht im
Kopp…
Abraham:Ach, das Leben könnte so schön sein!
Dr. Niemann:
Wie kommste denn darauf?
Hilbig: Nu, schön is was andres! Aber lustig… Is es
nich lustig? Hi-hiii! Stellt Euch mal vor, wir säßn im
Theater. Und vier solche Typn wie wir uff der Bühne. Und dann die
beiden Oberkasper Urian und Roter Terror. Ich würde mir in de Hose
seechn vor lachn…
Dr.
Niemann: Lachen? Hm, unsre Brüder und Schwestern in der
Bundesrepublik müssten Lichterketten bilden zwischen…
hm… zwischen Passau und Flensburg, wenn sie solches
sozialistisches Elend auf deutschen Boden hier sehen könnten.
Hm!
Abraham:Dort sehen die linken Gutmenschen eher die Faschisierung
von Staat und Gesellschaft und den Rassismus voranschreiten. Und unsere
Bonzen wären ja im Großen und Ganzen auf dem richtigen
Wege… Ach, Ihr täuscht Euch gewaltig über den Westen!
Dort gibt es nur noch wenige, die ein Herz für uns politische
Gefangene haben.
Dr.
Niemann: Hm! Nun hört mal auf mit dem Gespinne! Wer kauft uns
denn mit den Steuergeldern der Wessis hier raus, hm?!
Abraham:Reich sind sie noch! Da kommt es auf die paar Mark nicht
an, zumal sie ja vor allem unseren Bonzen das Westgeld in die Kassen
spülen…
Hilbig: Nu, das hilft ooch, immer schön de Zuchthäuser
zu fülln für den lukrativen Menschenhandl in der
Gegenwart.
Abraham:Sehe ich genau so!
Becker: Ich auch! Denn wenn der Westen immer das unzufriedene und
… äh… revolutionäre Potenzial
abschöpft… äh… dann bleibt ja das
realsozialistische… äh… Steinzeitsystem ewig
bestehen.
Abraham:Einspruch Euer Ehren! Auf der
Erde bleibt nichts ewig bestehen. Und dieses System schon gar nicht.
Niemand kennt die Geschichtsgesetze. Nur jene Besserwisser, die sich
wie Marx selber für Götter halten, tun so. Es werden noch
Dinge zwischen Himmel und Erde geschehen, an die wir heute gar nicht zu
hoffen wagen…
Dr.
Niemann: Hm. Ich glaube noch an Deutschlands Wiedervereinigung,
auch wenn ich sie bestimmt nicht mehr erleben werde. Hm. Aber die
Träger dieses Systems, die den Leuten den Verstand rauben, die
sind so blöde…hm. Klar, dass solche Blödheit auf Dauer
keinen Bestand haben kann.
Hilbig: Zustimmung meinerseits! Nur möchte ich hinzufügn
dürfn, dass ohne de Blödheit der Einen nich die Schlauheit
der Andren zu erkennen wäre…
Becker: Wusste gar
nicht… äh, dass unser Poet auch dialektisch denken
kann!
Man hört
im off Schlüsselgeklapper und dass ein Kübel die Treppe
heruntergetragen wird. Die Gefangenen schnappen sich ihre Schüssel
und stellen sich an die Gittertüren. Obermeister RT öffnet
die Türen. Die Häftlinge halten hintereinander ihre
Schüssel aus der Tür und ziehen sie nach der Befüllung
wieder herein, setzen sich an den Blechtisch, während Obermeister
RT
beim Einschluss jedes Mal brüllt: Und
jetzt herrscht Ruhe und Ordnung hier unten!
Abraham
antwortet:Danke,
Herr Obermeister!
Nachdem die Schritte des Wärters treppauf verhallten,
meldet sich Dr.
Niemann zu Wort: Wozu hast Du Dich denn bedankt bei diesem Idioten, der
nicht mal die deutsche Sprache beherrscht?
Abraham:Einfach nur so;
gewissermaßen aus Dankbarkeit, dass es heute mal fünf
Pellkartoffeln mit Quark gibt…
Becker: Drei faule
Pellkartoffeln hätt’ ich dem Brutalo gleich an den Kopf ballern
können!
Hilbig: Ich hab heute ma bloß zwee faule Kartoffeln, dreie
kann’sch also genießn. Ich fress’ für mein Leben gern
Pellkartoffeln mit Quoork…
Dr.
Niemann: Hier in Cottbus, also in der Lausitz, hätte noch
Leinöl dazu gehört…
Abraham:Das geht zu weit!
Hilbig: Das is zu gesund für uns!
Dr.
Niemann: Gesund, hm. Was ist schon gesund? Alles führt zum
Tode hin…
Abraham:Wenn alles nur zum Tode
hinführe, dann wäre das Leben wirklich traurig. Deshalb
glauben ja viele Menschen an die Auferstehung. Das hilft, den Tod zu
überwinden.
Hilbig: Da kann ich nur mit Goethes Mephisto sagn: ‚Ich bin
der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles was
entsteht; ist wert, dass es zugrunde geht; Drum besser wär’s wenn
nichts endstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt, mein eigentliches
Element.
Dr.
Niemann: Ist ja erstaunlich, Hilbig, dass Du mit Deinem
Achtklassenschulabschluss sogar aus Goethes Faust zitieren kannst. Hm!
Das habt Ihr doch nicht etwa schon in der Grundschule gelernt –
oder?
Hilbig: Lesn un Schreiben hab ich in der Schule gelernt, viel mehr
aber ooch ni. Wenn de willst, kann ich ooch noch mal Karl Marx
zitiern…
Dr.
Niemann: Hm, danke, das muss nun wirklich nicht sein!
Becker: Oh bitte,
Wolfgang! Mich würde es freuen.
Hilbig: Marx hat am achtundzwanzigsten Dezember
Achtzehnhundertdreiundvierzig een Selbstporträt in der Mannheimer
Abendzeitung unter falschem Namen veröffentlicht, wo er sich
selber attestierte, dass ihn, den Verfasser, ein scharfer Verstand
auszeichne und eene – wörtlich! – ‚wahrhaft
bewunderungswürdige Dialektik, womit der Verfasser sich in die
hohlen Äußerungen der Abgeordneten gleichsam
hineinfraß und se dann von innen heraus vernichtete; nicht oft
ward der kritische Verstand in solcher zerstörungslust’schen
Virtuosität gesehn, nie hat er glänzender seinen Hass gegen
das sogenannte Positive gezeigt, dasselbe so in seine eignen Netze
gefangen und erdrückt‘.
Abraham:Ja, das lässt sich wohl
gut belegen, dass Marxisten in aller Welt, wenn sie zur Macht streben
oder an ihr partizipieren, durch ihre ‚zerstörungslustige
Virtuosität‘ auffallen. Man denke nur an die
Kulturrevolution in China…
Becker: Das lässt
sich aber über die… äh… Nazis gleichfalls
sagen!
Dr.
Niemann:Ich würde sagen, hm, über alle
Stalinisten und Satanisten.
Leutnant Urian:
Ruhe da unten! Es knallt
gleich!
(Eine Weile
herrscht Ruhe.)
Hilbig: Ohne Weiber… O je! Hey, merkt Ihr was?!
Abraham:Was denn?
Hilbig:Wir vegetiern hier in ’ner Welt ohne Weiber… Wir
sind des Todes!
Dr.
Niemann:Ach, der Herr Poet vermisst plötzlich etwas, was er
nie besaß!
Hilbig:Seid Ihr bescheuert?!
Becker:Du warst doch nie verheiratet…hä? Da hat der
Doktor doch recht, oder?
Hilbig:
Spinner!
Dr. Niemann:
Warum vermisst Du plötzlich
Frauen? Was sollen wir erst sagen, die wir verheiratet sind?
Hä?
Hilbig:
Erstns war ich schon eemal fast
verheiratet. Da kann ich sogar ’ne Tochter vorweisn. Und ee weitres Mal
war ich völlig verheiratet. Und drittens seid Ihr Idiotn! Eene
Welt voller Männer is des Todes!
Dr.
Niemann:Tja, das ist ein Teil unsrer Strafe. Hm. Das wolln sie
doch bezwecken, dass wir die Glieder strecken – auch ohne
Weib.
Abraham:Das kommt ja fast an die ‚Ermutigung‘
Biermanns heran…
Becker:Ach, wer kennt schon den Liedermacher Wolf
Biermann?
Hilbig:Wir müssn uns redlich wehrn, nich
rötlich!(Nach
einer Pause:) Keen maskulines Wort darf uns
hier mehr über die Lippn komm!
Dr.
Niemann:Hm. Da bin ich aber auf deine nächste Meldung
gespannt!
Hilbig:Ganz richtig, da werd’ ich sagen: Frau Meister, es meldet
Strafgefangne Hilbig!
Während die Mithäftlinge grölend lachen,
ruft Obermeister RT
aus dem Off: Fertig machen zur Nachtruuuuuuuuu-he!
Stiefeltritte,
Schlüsselgerassel, dann schreit RT: Zähhhhhhh-lung! Zähhhhhhh-lung!
Der
Gummiknüppel saust auf Abrahams Körper nieder. Er sinkt in
die Knie und schützt mit den Händen seinen Kopf.
Dr. Niemann,
Hilbig und Becker
rufen aus ihren Zellen: Hilfe! Hiiiilfe,
Hiliiiiiiilfe!
RT stürzt aus der Zelle und ruft in den Gang:
Ruhe! Sofort Ruhe!
Stille. Mit einem wütenden
Kopfnicken deutet RT dem Häftling an, sein Schränkchen vor
die Tür zu stellen. Doch Abraham bleibt kopfüber versunken
wie in ein Gebet und reagiert nicht. RT nimmt das Schränkchen
selber heraus, die Schüssel fällt herunter und er
stößt sie mit dem Fuß aus der Zelle. Dann
schließt er Abraham ein und löscht das Licht, bevor er die
nächste Zelle aufschließt.
RT: Nee, nee! Keine besonderen Vorkommnisse, Sie
Spaßvogel! Das ist Meuterei, was hier unten passiert! Und das wird
Folgen haben, das kann ich Ihnen versprechen!
Die letzte Zellentüre wird
geschlossen, nachdem Ulli Becker sein Schränkchen herausgetragen
hat. Nachdem das letzte Licht gelöscht wurde, kehrt eine kurze
Weile Ruhe ein. Man hört RT die Treppe hochsteigen.
RT: (im off) Und jetzt herrscht Ruhe hier unten!
Verstanden?!
Dr.
Niemann:Verstehen kann man das nicht, aber wenigstens einhalten,
Herr Obermeister!
RT:Hier wird gehorcht! Das habe ich Ihnen schon tausendmal
extremis verbis gesagt!
Becker:(lachend) Sie sind ein
Sprachgenie!
RT
(die Treppe wieder herunter
polternd):Wer war das?!!
Becker: Ich!
RT:Wer ist hier ich?!
Becker:Na, ich!
RT(die Tür aufschließend): Was heißt hier ich?!
Becker:Sie haben eine Frage gestellt, und ich habe präzise
geantwortet.
RT:Sie haben! Wie haben Sie sich zu melden?!
Becker:Strafgefangener Becker.
RT:Na also! Und was soll ich sein?(Dabei den Schlagstock in die Höhe
streckend)
Becker:Ich habe Sie bewundernd ein Sprachgenie genannt, Herr
Ober… (leise)… Meister!
RT: Und warum?!
Becker:Weil sie so sprachschöpferisch ‚extremis
verbis‘ gesagt haben.
RT:Na und? Verstehen Sie wohl nicht, Herr Lehrer,
was?!
Becker:Doch, doch! Aber eigentlich heißt das ja
‚expressis verbis‘, aber Sie haben das ausdrücklich –
ganz im sozialistischen Sinn – zu ‚extremis verbis‘
weiterentwickelt. Dazu kann ich nur gratulieren!
RT:Wolln Se mich verarschen, Sie
neunmalkluger Verbrecher, Sie?!(Wütend schließt RT die Gittertür auf und
schwingt drohend den Schlagstock) Sie haben
auf meine Kosten studiert! Ich verteidige diesen Staat. Und Sie haben
ihn verraten, Sie!
Becker:
Dafür muss ich ja
büßen. Damit Sie mich nun umerziehen
dürfen.
RT: Werden Se nicht
frech! Sie haben lediglich die Hausordnung einzuhalten. Wohl zu viel
verlangt, was?!(dabei mit dem Knüppel auf Becker
eindreschend)
Becker:
Aua! Gehen Sie mit Ihrer Frau
genauso um?
RT (innehaltend und Becker mit der Hand an die Gurgel
springend):Lassen
Sie ja meine Frau aus dem Spiel! Die verteidigt unseren Staat auch in
dieser Uniform. Sie!! Meine Frau ist zwar nicht schön, aber sie
ist Kommunistin. Verstanden?!
Becker (in die Knie
sinkend, RT lässt ihn los): Danke,
danke, ich hab’s restlos …auha… verstanden...
au!
RT: Schnauze, Sie Jammerlappen!
Er reißt Beckers Arme und Hände hoch,
schließt sie in eine Handschelle (einer sogenannten Acht) ein und
schließt ihn hoch oben am Gitter fest, so dass Becker auf den
Zehenspitzen stehen muss. Wütend schließt er die
Gittertür ab und kracht die Holztür zu, ohne das Licht in
Beckers Zelle zu löschen.
Becker:
Aua! Auhhhh! Huuuuhhh!
Abraham: Ulli? Hey Ulli, was ist?
Becker:
Aua! Auhhhh! Huuuuhhh!
Dr. Niemann:
Hm. Becker, was quält Dich? Hast Du
Schmerzen?
Becker:
Aua! Auhhhh! Huuuuhhh!
Hilbig: Achtung! Ich höre was!
RT: (im off) Ruhe hier unten!
Kurz darauf geht wieder das Licht in Beckers Zelle
an.
RT (schließt sich durch die Zellentüren und
schreit Becker an): Sie elender
Jammerlappen!
Er
schließt Becker vom Gitter ab und löst ihm die Handschelle.
Bevor er wieder Zelle verlässt und das Licht löscht, schreit
er ihn wieder an.
RT: Wir könn’ auch anders! Merken Se sich das! Noch einen
Ton… und Sie hängen die ganze Nacht am Gitter, Sie
Verbrecher, Sie!!
Becker sinkt schmerzverzerrt in sich zusammen und winselt
leise vor sich hin.
RT schließt sich wieder durch die Türen und man
hört ihn die Treppe ersteigen. Von oben ruft er: Ruhe hier unten!
Abraham: Ulli? Hey Ulli, is’ was?
Doch Ulli Becker antwortet nicht.
Hilbig: Ach, was den Schlaf mir nahm, war eurer Stimmen
Klang;
nun bin ich müde meiner eigenen
Gedanken
und müde dieses
Lands, der Schreie und Schranken.
Dr.
Niemann: Hm, da kann ich dem Poeten nur zustimmen. Hm. Aber was ist
mit Becker los?
Abraham: Ulli, gib ein Zeichen!
RT: (im off) Ruhe hier unten!
RT kommt die Treppe heruntergepoltert, schließt sich,
dabei das Licht anknipsend, in Beckers Zelle ein, der noch immer am
Boden liegt.
RT:Woll’n Se keine Meldung
machen?
Becker
rührt sich nicht. RT verschränkt die Arme und dreht dabei
seinen Gummiknüppel wie einen Propeller. Becker zieht die
Hände über seinem Kopf zusammen.
RT:So, was soll’n das nun werden, Strafgefangener? Es ist
Nachtruhe. Haben Sie das verstanden?(nach einer Weile des Schweigens)Zieh’n Se Ihr Hemd
aus!
Becker richtet
sich halb auf und zerrt sich sein gestreiftes Hemd vom Leib. Dann
streckt er es RT entgegen, der es nicht annimmt.
RT:Das Hemd behalten Sie. Wenn ich morgen früh zum
Wecken komme, haben Se sich dran aufgehangen. Verstanden?! Dann haben
wir endlich Ruhe hier unten!
Langsam schließt RT die Zellentüren ab und
löscht das Licht. Man hört noch, wie er die Treppe ersteigt.
Dann die Geräusche des Schnarchens von Dr. Niemann.
Becker: Habt Ihr das
gehört… äh, habt Ihr das gehört?
Abraham: Was denn?
Becker:
Ich soll mir das Leben nehmen…
äh, ich soll mich… äh, mit meinem Hemd
aufhängen.
Dr.
Niemann (hört auf mit Schnarchen
und stöhnt, bevor er fragt): Ach, das
ist doch kein Ernst, hm, das ist doch ’ne Lachnummer, hm, etwas zum
Auslachen…
Abraham: Doktor, die Wahrheit der Realität kann nur durch die
Arroganz der Ignoranz verdunkelt werden. Du bist und bleibst eben ein
Zyniker.
Dr.
Niemann: Hm, wenn’s denn sein muss, bitte sehr! Du wirst doch aber
zugeben, dass…hm, dass es, um solche Typen wie RT oder Urian
ertragen zu können, hm, mehr braucht als nur Mut, also meinetwegen
Zynismus. Hm?
Hilbig: Gut gesagt! Könnte glatt von mir sein!
Becker: Ich komme
einfach nicht… äh, einfach nicht darüber hinweg…
äh, das solche Monster hier mit Menschen umgehen
dürfen…
Dr.
Niemann: Menschen? Hm. Verbrecher sind wir, das hast Du wohl
vergessen, hm?!
Abraham: … und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir
vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in
Versuchung…(gähnt)…sondern
erlöse… uns… von… dem
Bööösen… ähhhh…
Kurz darauf schnarcht
er.
Hilbig: Baudelaire schrieb mal…
Dr.
Niemann: Wer?(Gähnen)
Becker:
Charles Baudelaire – ein
französischer Dichter, 19. Jahrhundert.
Dr. Niemann:
Ach der! Hm.(nach kurzer Pause) Hilbig scheint ja der belesenste Heizer der DDR zu
sein… Hm. Und was hat uns der Herr Baudelaire zu
sagen?
Hilbig: Na, der schrieb in sei Tagebuch: ‚In jeder Minute
zermalmt uns die Vorstellung der Zeit‘…
Becker
(gähnend): Ähhhh, das kannste laut sagen!
Hilbig: Es gibt nur zwee Mittel, so Baudelaire, den Albdruck der
Zeit zu entrinnen – ihn zu vergessen: das Vergnügen und de Arbeit.
Das Vergnügen verbraucht uns. De Arbeit kräftigt uns.
Wähle!
Dr.
Niemann: Hier haben wir keine Wahl. Hm. Wir dürfen weder
arbeiten, geschweige denn uns vergnügen. Hm.(gähnt) Das kannste dem Herrn Baudelaire mal schreiben!
Hilbig: Wir könn’ dem Albdruck der Zeit nur durch Geduld und
Hoffnung widerstehn…
Stille. Alle außer Hilbig schnarchen. Er brabbelt
noch eine Weile vor sich hin.
Hilbig: Gegenwart is Gegenwart. Sie gehört nicht der Zeit an.
Sie gehört eher, wie Sloterdijk behauptet, eener Bewegungs- oder
Dramenkategorie an. Ja, das glaube ich ooch!
Eine Weile hört man nur das
Schnarchkonzert, bevor Hilbig noch eins seiner Gedichte rezitiert. Dazu
tanzen drei Grazien mit langem offenem Haar zu sphärischen
Klängen.
Hilbig:
Schickt mein im Gefängnis
abgeschnittenes Haar nach Auschwitz!
Gefallene Tollen, mein Reichtum, mein Stolz.
Sollt ihr nichts als Kehricht sein, seidenglänzend,
rings um den Friseurstuhl (Wofür? So lange
sah ich aus wie Novalis, wie Hölderlin)
Schickt meine Locken nach Auschwitz!
Die Schere des Meisters tat mir nicht weh,
(Nach einem halben Jahrhundert Praxis
beherrscht man sein Handwerk) und endlich
ist wieder Ordnung um meinen Kopf, nun sammelt
auf meinen blonden Verstand, schickt ihn nach Auschwitz!
Verwebt meine Flechten
den Bergen dunklen Frauenhaars, die dort liegen.
Vergesst nicht, vermengt mein Haar diesem dichten
fortatmenden Duft, lasst es wachsen darin,
lasst meine Liebe wachsen.
Die hier nicht wuchs, diese
Liebe, lasst blitzen, lasst wehen,
verschlungen dem kostbaren Haar dieser Welt.
Siegmar Faust: Erziehung durch Einzelhaft Dritter Akt
Dunkelheit. Mit Beamer wird auf eine Leinwand eingeblendet:
Strafvollzugseinrichtung Cottbus
Dezember 1989 –
eine Viermannzelle
3. Akt
Vier politische Gefangene (A, B, C, und D), die
dem Gefangenenrat vorstehen, schreiben gemeinsam einen Protestbrief an
die Regierung. Zwei Wärter, darunter RT, assistieren. Der
ältere Wärter, Meister K., trägt einen Oberlippenbart.
Die Wärter sind kaum wiederzuerkennen, sie buhlen um die Gunst der
Häftlinge und überbieten sich förmlich an
Freundlichkeit. Der ältere Wärter hat sogar eine Gitarre
mitgebracht und gibt Brüder zur
Sonne, zur Freiheit als ein Kampflied der Arbeiterklasse zum
Besten, während RT mit zwei Gummiknüppeln auf einem Hocker
den Takt dazu schlägt.
RT:Ja, ich war manchmal hart, aber immer gerecht. Daran liegt
mir viel. Bei mir musste keiner hungern, ohne zu frieren.
Die Häftlinge halten inne,
gucken belustigt bis skeptisch, bis B fragt:
Sollte das ’n Witz sein?
RT: Ja, ich kann auch lustig sein. Fragt mal meine
Enkelkinder!
A: Stört Sie es denn nicht,
dass wir hier noch gefangen sind, weil wir die DDR schon etwas
früher verlassen wollten, während sich die sozialistische
Menschengemeinschaft jetzt legal in den Westen verdünnisieren
darf?
B: Bundeskanzler Kohl hat sogar
Begrüßungsgeld ausgerufen!
C: Genau!
D: 100 D-Mark pro Person! Steht
sogar im Neuen Deutschland. In Ihrer Parteizeitung!
Dabei hält er das ND
hoch.
A (RT ansprechend): Haben Sie sich
die Westmark auch schon in Westberlin abgeholt?
RT: Nee, nee! Bei aller Freundschaft! Mir beim
Klassenfeind… äh… Klassenfreund… äh, ich
weiß gar nicht, was man dazu sagen darf… Also nee, das geht
zu weit. So weit bin ich noch nicht!
A (Meister K.
ansprechend): Und Sie?
Meister K. (misstrauisch
zu RT blickend): Na ja, das ist so…
Meine Frau, die ist nicht einfach. Deshalb ist das nicht so einfach zu
erklären. Jedenfalls hat sie mich gedrängt. Sie hat ja keine
Fahrerlaubnis. So musste ich erst nach Westberlin fahren, dann noch
über die ‚grüne Grenze‘ bis nach
Wolfsburg…
D: Heißt das, Sie haben
sich das Begrüßungsgeld zweimal abgeholt?
Meister K. (stotternd):
Ich hätte gar nichts… Ehrlich!
Aber meine Frau… Meine Ehe hätte das nicht
überstanden… Ehrlich!
C: Da kann der Klassenfeind nur
kichern!
A: Los Jungs, Schluss mit lustig!
Wir haben noch listig an unserem Protestbrief zu schreiben!
B: Lies noch mal von Anfang an!
D: Ja, wir sind schon wieder viel zu weit
abgewichen!
A: Na gut! Und wir müssen
aufhörn mit dem Rumgeschleime! Knallharte Forderungen!
A (zuD gewandt): Lies Du mal vor!
D: Cottbus, 4. Dezember 1989. Die
Strafgefangenen der Strafvollzugseinrichtung Cottbus, die im Namen des
Volkes verurteilt wurden, wenden sich mit der Bitte um dringende Hilfe
an die Regierung des Volkes der DDR. Das Volk hat ein Recht darauf, zu
erfahren, dass nach Abschluss von menschenunwürdigen
Ermittlungsverfahren und nach dementsprechenden
Urteilen…
A: Nee! Das ist zu lasch! Das
sollten wir beim Namen nennen!
D: Schandurteilen!
C: Genau!
D: (mit dem neuen Begriff fortfahrend): … und nach Schandurteilen der Gerichte, nun auch im
Strafvollzug die elementarsten Menschenrechte skrupellos durch den
Strafvollzug missachtet wurden und werden…
RT (sich aufplusternd):
Aber… das ist doch nicht wahr…
also nicht mehr… heute doch nicht mehr. Wir wollen Euch doch
helfen…
Die
Häftlinge lachen.
RT: Ich bin zwar… ich…
ich war zwar Kommunist, aber meine Großmutter hat mir aus der
Bibel beigebracht: ‚Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn;
wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn…‘ Ich
habe… ich war doch so streng aus Liebe zu Euch,
ich…
Einige
lachen wieder.
A: Lassen Sie’s einfach sein!
Keiner von uns will sich rächen. Wir wollen den Rechtsstaat. Wir
werden Rechtsmittel einlegen. Das könn’ Se dann alles dem Richter
erzählen.
D: (im Text fortfahrend): …Im Namen der Humanität fordern wir:
1.
Ausspruch einer Generalamnestie für alle Strafgefangenen aller
Strafvollzugseinrichtungen der DDR, außer denen, die wegen
Tötungsdelikten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, gegen das
Volksrecht und Kriegsverbrechen verurteilt wurden…
B: Ich würde hier gleich eine Terminvorgabe
machen!
C: Genau!
A (zu C): Mann! Du denkst ja sogar
mit!
C: Idiot!
B: Hey, könnt Ihr Euch mal konzentrieren?!
A: Los, Terminvorschläge!
C: Genau!
B: Was heißt das
konkret?
A: Ich würde vorschlagen:
Termin der Verhandlung: spätestens 10. Dezember 1989.
B: Und deren Umsetzung?
A: Würde sagen… Als Termin der Realisierung
würde ich bis 31. Dezember vorschlagen!
D: Einverstanden?
B: Eh! Weihnachten noch im Knast
sitzen?
D: Scheiß uff Weihnachten!
Hauptsache wir kommen in diesem Jahr noch raus – das wäre
doch das größte Weihnachtsgeschenk unseres Lebens…
Oder?
C: Genau!
Bis auf B nicken alle
zustimmend.
B: Ihr habt wohl keine Kinder,
was?
A: Fang jetzt nicht solche
privaten Diskussionen an! Hier geht’s ums Ganze!
D: (im Text
fortfahrend): …zweitens fordern wir:
‚Vollständige Realisierung der Amnestie vom 22. Oktober.
Noch immer sind politische Gefangene, die auf der Basis des § 213,
also wegen ‚ungesetzlichen Grenzübertritts‘ verurteilt
wurden, in der Strafvollzugseinrichtung Cottbus
inhaftiert…‘
Meister K.
(sympathieheischend in die Runde
blickend): Das kann ich voll
unterschreiben!
A: Ach, dann werden Sie hier aber
arbeitslos!
Meister
K.: Damit
rechne ich sowieso. Hauptsache meine Frau verliert ihre Arbeit
nicht!
B: Was macht sie denn?
Meister K.: Sie ist Sprechstundenhilfe in der Poliklinik.
D: Ach ja, Kranke wird’s auch weiterhin geben!
B: Vielleicht nicht mehr so viele, denn in freien
Ländern gibt’s nicht so viele Drückeberger, die sich
krankschreiben lassen.
A: Ach, woher willst Du das denn
wissen?
D: In freien Ländern gibt’s
dafür mehr Kriminelle, Verkehrsunfallopfer und
Drogensüchtige.
A: Dafür sind wir
Weltmeister bei Selbstmordopfern. Und in der Kriminalität wird
sich unsere SED- und Stasi-Clique wohl nicht mal von der sizilianischen
Mafia überbieten lassen!
C: Genau!
C reibt sich die Hände und krümmt sich vor
freudigem Kichern, während B empört um Luft ringt.
B: Hau nicht so auf den Putz! Ich war auch mal SED-Genosse,
bevor ich abtrünnig wurde! So verallgemeinern darf man nicht. Es
gab unter den kleinen Leuten auch ganz ehrliche SED-Genossen, die nicht
borniert und kriminell waren, weil sie Idealisten waren.
D: Ja, waren! Mal ganz am Anfang der Karriere vielleicht.
Ach, es geht mir nicht um die Masse der doofen Mitläufer, um die
2,2 Millionen Karrieristen oder ideologisch Verblendeten. Es geht doch
um die Führungsclique, die berühmten ‚oberen
Zehntausend‘!
RT: Dazu könn’ Se uns ja
nicht rechnen!
A: Das sagt doch keiner! Aber Sie
zählen zu den Bütteln, die für diese Clique die
Drecksarbeiten erledigten. Oder wolln Se das abstreiten?
Meister K.: Hört doch auf, Euch zu streiten! Das bringt doch
nichts. Wir sitzen doch alle… irgendwie alle im selben Boot –
oder?
C: Um Gottes Willen!
B: In Ihrem Boot möchten wir nicht länger sitzen.
Wir wolln hier endlich raus!
A: Tja, sie fürchten sich
vor der Zukunft, wa? Kann ja sein, dass auch hier in Cottbus bald der
Kapitalismus siegt, wa?
C: Und Stasi-Offiziere werden in
Cottbus mal die größten Immobilienhaie…Ha…
Hahaahaaa…
RT: Wollen Sie… wollen Sie
wirklich, dass hier die Kapitalisten, die Imperialisten,
Großbanken und andere Kriegstreiber regieren?
D: Nee, das wollen wir sicher nicht, auch keinen
Staatskapitalismus mit sogenannten volkseigenen Banken und Fabriken.
Wir wollen Freiheit, Demokratie und einen Rechtsstaat. Wir wollen freie
Wahlen!
B: Wir wollen reisen, uns die
Welt anschauen, uns selber eine Weltanschauung bilden
dürfen!
A: Wir wollen endlich unsre
Meinung sagen dürfen, ohne Angst haben oder heucheln zu
müssen. Wir wollen…
D: Hey, wollten wir unseren
Protestbrief nicht endlich mal fertig bekommen?
Alle glotzen betreten wie
Ertappte.
A: Also los, Jungs! Wollen wir
nicht auch die Bestrafung derer fordern, die jährlich hunderte
Politische in den Westen verscheuerten?
D: Auf jeden Fall!
B: Aber wir sollten erst mal die
Bestrafung jener fordern, die uns hier geschlagen und sonst wie
misshandelt haben!
C: Genau! Das ist viel
wichtiger!
A: Wir wissen ja nicht mal, wie
diese Folterknechte richtig heißen!
D: Na, die Offiziere kennen wir ja namentlich, und bei den
Schließern genügen doch erst mal die Spitznamen. Das Weitere
ist dann Sache der Polizei oder der Staatsanwälte.
C: Genau!
A: Na, dann zählt man auf,
ich schreibe.
D: Dann muss aber ganz vorn auf
der Liste unser ‚Freund‘ stehen, den wir RT
nennen!
RT: Ich? Ich habe doch niemand auf
dem Gewissen! Ich… Ja, man nannte mich ‚Roter
Terror‘, weil ich streng war, für Ordnung sorgte… Ich
bin, wenn man so will, ein Roter. Und übrigens hat Lenin im
September 1918 ein Dekret verfasst ‚Über den roten
Terror‘. Man wird wohl noch Marx und Lenin als Vorbild haben
dürfen – oder?
B: Ja, Marx warn
Schreibtischtäter, Lenin aber eindeutig ein Terrorist und
Massenmörder!
C: Genau!
RT: Ja, Stalin oder Trotzki, aber doch nicht Lenin!
A: Sind Sie so dumm oder tun Sie bloß so? Schon zu
Lebzeiten Lenins wurden Konzentrations- und Straflager errichtet,
politisch Andersdenkende rücksichtslos verfolgt, verhaftet,
gefoltert und ermordet. Das gehört heute zum Standard der
Erkenntnisse.
C: Genau!
D:Genau am 12. Dezember 1938,
meinem Geburtstag, entschied Stalin an nur einem Tag über den Tod
von 3 167 Menschen.
RT: Ja Stalin! Das sagte ich doch,
aber doch nicht Lenin!
A: Unbelehrbar der Mann! Los
Jungs, was für Namen zählen wir noch auf?
B und D laufen fortan stets in
wechselnder Geschwindigkeit um den Tisch herum. A schreibt und C blickt
ihm zumeist über die Schulter.
B: Obermeister ‚Arafat‘…
C: Genau!
B: Dann die Obermeister
‚Texaner‘‚ ‚Schäfer‘,
‚Vollstrecker‘,
‚Elefantenarsch‘…
C: Genau!
D:Und
wo bleiben die Erzieher?
Meister
K.: Ja, das
warn ja Offiziere, unsre Vorgesetzten.
C: Genau! Die verdienten auch mehr als die
Schließer.
A: An erste Stelle wäre wohl
da Oberleutnant Hoffrichter zu setzen!
B: Urian?
C: Genau!
A: Und was ist mit ‚Jauche‘?
B: Oberleutnant Grube? Auf jeden Fall ganz oben!
Meister K. verlässt
unauffällig den Raum.
B: Leute, wir müssen vor
allem Forderungen stellen, was sich hier schnellstens ändern muss!
Die Bestrafung der uniformierten Sadisten kommt doch erst an letzter
Stelle.
C: Genau!
A
(empört): Solln wir uns von denen weiter schikanieren
lassen?
RT
verlässt die Zelle.
B: Wer schikaniert uns denn jetzt
noch nach dem Fall der Mauer, hä?! Die haben doch die Hosen
gestrichen voll.
C: Genau!
A: Grund genug, jetzt Forderungen aufzustellen!
D:Also, worauf wartet Ihr? Wir
fordern erstens eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, zweitens der
hygienischen Verhältnisse in den Zellen und
Sanitäranlagen…
B: Vor allem die Verbesserung der
medi-zynischen Verhältnisse nicht vergessen!
D: Und die Versorgung mit besseren
Lebensmitteln…
C: Genau!
B: Vor allem mehr Vitamine!
C: Genau!
A: Nicht alles auf einmal! Ich
komme doch gar nicht mit dem Notieren mit!
D: Dann sollten wir die Zulassung von Fachliteratur fordern.
Und das Verbot ideologischer Propaganda…
C: Genau!
B: Sportliche Betätigung!
Und Schluss mit dem Spitzelsystem unter den Gefangenen!
C: Genau!
D: Auch die katastrophale
Überbelegung der Zellen muss angeprangert werden!
A: Okay! Am Schluss würde ich darauf hinweisen, dass wir
keinesfalls gewillt sind, von unseren Forderungen
abzuweichen.
B: Da wir ohnehin all unserer
Rechte beraubt sind!
C: Genau!
A: Zur Unterstützung unserer Forderungen werden wir
morgen um 9 Uhr die Arbeit niederlegen, solidarisch mit anderen
Haftanstalten.
C: Genau!
D: Und der Anstaltsleiter hat dafür zu sorgen…Nee,
andersrum! Noch bitten wir!(An A gewandt:) Also,
schreib!Leiten
Sie bitte sofort die notwendigen Maßnahmen ein, damit die
Menschenrechte der Gefangenen der DDR umgehend verwirklicht
werden.
Meister
K. und RT nähern sich mit
einer Gitarre und singen:
Brüder zur Sonne zur Freiheit Brüder zum Lichte empor…
Die Häftlinge, völlig überrascht, fallen erst zögernd, dann wie besessen in das Lied mit ein, das zu einem lauten Triumphgesang anschwillt, während RT mit zwei Gummiknüppeln auf einem Hocker den Takt dazu schlägt:
Hell aus dem dunklen Vergangen
leuchtet die Zukunft hervor.
Seht wie der Zug von Millionen
endlos aus Nächtigem quillt.
Bis eurer Sehnsucht Verlangen
Himmel und Nacht überschwillt.
Brüder, in eins nun die Hände,
Brüder, das Sterben verlacht.
Ewig der Sklaverei ein Ende,
heilig die letzte Schlacht…